Neue Psychotherapeuten treten an, die Homosexualität zu emanzipieren. Sie distanzieren sich klar von „heterosexistischem Denken“ und der Homophobie ihrer Kollegen. Heterosexismus ist die ideologisch verfestigte und zwangsläufig durchgesetzte Weltanschauung vom Leben als verschiedengeschlechtliches Paar. Nur wer sich innerhalb dieser Normen und ihrer „Toleranzwerte“ bewegt, hat Chancen auf „ungestörte Entwicklung“.
In zwei Punkten aber erfüllen auch diese Therapeuten ihr Versprechen nicht: Sie propagieren eigentlich eine ideale Zweierbeziehung, möglichst lebenslang… und sie teilen die Welt weiterhin in Hetero- und Homosexuelle ein. Kurt Wiesendanger schreibt massgebliche Bücher für die Hand von BeraterInnen. „Vertieftes coming out“ (2005) nun, macht den Blick frei für die psychischen Abläufe der Selbstwahrnehmung von homosexuellen Wünschen und die Probleme die sich mit ihrer Durchsetzung in einer heterosexuell geprägten Familie und Umwelt anhäufen. Er weist einleitend darauf hin, dass „andere sexuelle Identitäten“ schon längst aus den Krankheitslisten der Weltgesundheitsorganisation gestrichen wurden* und als solche eigentlich keiner „Behandlung“ bedürften, lässt aber den „gesellschaftspolitischen Therapieanspruch“ gegenüber einem fixierten Normenbegriff eher im Hintergrund. Aber wenn er Homophobie als gleichbedeutend einschätzt wie Antisemitismus oder Ethnozentrismus (also Abschottung gegen andere Kulturen und Hautfarben), müsste er auch hier die politische Aufarbeitung fordern! Aber das würde wohl den Rahmen des Buches sprengen. Zur Zeit der neuen Schwulenbewegung stand dieser Anspruch nach beiden Seiten ganz vorne!
Explizit wird im neuen Buch auf die Kindheit und Jugend von Schwulen hingewiesen, in welcher die sukzessive Ignorierung von gleichgeschlechtlichen Wünschen und die allmähliche Übernahme der Angst der Gesellschaft vor Homosexualität zu eigener Entwertung und Anbiederung führt, wodurch als letzte Konsequenz die permanente und krank machende Selbstunterdrückung etabliert wird.
„Somit müssen sich gleichgeschlechtlich Empfindende dauernd damit auseinandersetzen, dass sie einer solchen heterosexuellen Rollenerwartung nicht entsprechen. Vor einem Coming-out bedeutet dies eine stetige Aushöhlung der eigenen Identität, die in dieser Entwicklungsphase sowieso brüchig ist.“ (Wiesendanger, S. 28)
„Und so gehört es bei ihnen meist selbstverständlich dazu, sich für ihre Gefühle im Allgemeinen und ihre Sexualität im Besonderen zu schämen und sich für ihr Erleben auch noch schuldig zu fühlen.“ (Wiesendanger, S. 30)
„So wird sich schwul entwickelnden Kindern von frühester Kindheit an eine Welt vorgeführt, die scheinbar ausschliesslich von heterosexuellen Werten geprägt ist und in der sie sich demzufolge nicht beheimatet fühlen können. Sei es in der Herkunftsfamilie, in der Schule…“ (Wiesendanger, S. 31)
„Doch genau in diesem Zirkel der Verdrängung, der Selbstverleugnung und der Selbstinszenierung bleiben viele gleichgeschlechtlich empfindenden Jugendlichen und Erwachsenen oft Jahre oder Jahrzehnte, manchmal auch ein Leben lang stecken.“ (Wiesendanger, S. 33)
Unser Strafgesetz in der Schweiz hatte (1942), aus heterosexistischer Sixt heraus, die sexuelle Selbstbestimmung nur für Schwule und Lesben ab 20 Jahren festgelegt. In den 1970er Jahren wurde klar, dass das Strafrecht den sich ändernden gesellschaftlichen Realitäten angepasst werden musste. Seit 1992 dürfen nun homosexuelle Jugendliche in gleicher Weise über ihre Sexualität ab 16 Jahren selbst bestimmen, wie heterosexuelle schon länger vorher. Doch die neue „Freiheit“ wird aus Scham wenig genutzt. Die Ängste vor Zurückweisung sind offenbar noch zu gross! Dabei spielen Abhängigkeiten vom Elternhaus eine Rolle und andere Konflikte wie Schule, Ausbildung und Gruppendruck. Dies verdrängt die notwendige bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität.
„Vielfach rechtfertigen sie ihr unvollständiges Coming-out damit, das es ja keinen Wert habe, etwa die Mutter oder den Vater durch ihr Schwulsein zu verletzen, oder ihre Arbeitskollegen, ihren Chef damit vor den Kopf zu stossen. Sie selbst, so ihre Argumentation, könnten damit schon umgehen, aber die anderen würden damit nicht zurechtkommen, weswegen es besser sei, bei ihnen auf ein Coming-out zu verzichten.“ (Wiesendanger, S. 56)
„Und da das schwule Coming-out oftmals erst mit zeitlicher Verzögerung auf die eigentliche Pubertät und Adoleszenz folgt, gerät auch dieses schwule Ausprobieren im Lebensfahrplan häufig um Jahre in Verzögerung. Und jetzt, vielleicht mit 25, mit 30 oder mit 40 soll diese Phase auch unbedingt ausgelebt werden.“ (Wiesendanger, S. 59)
Liefert das vielleicht eine mögliche Erklärung dafür, dass ‚ältere Schwule’ oft so ‚rückwärtsgewandt’ einem Jugendkult huldigen. Daraus folgere ich, dass jeder der sich sein coming out „für später aufschiebt“ aktiv an den Rädern seiner sexuellen Entwicklung sägt! Und diese Jungs, die sich auf Internetplattformen über ‚alte Säcke’ ärgern, die ihnen Angebote machen, werden sich dereinst selber in der verachteten Situation wieder finden!
„Da ist einesteils jenes Drittel schwuler Männer, welches sich gänzlich um ihr Coming-out drückt, voller verinnerlichter Homophobie und noch immer nicht aus den Schuhen der eigenen traumatisierenden Kindheit zu steigen wagt. Und da ist anderteils das Drittel schwuler Männer, das (nur) mehr oder weniger ein Coming-out hatte… Entwicklungspsychologisch trotzig geblieben, fallen sie durch eine pubertäre, in gewissen Bereichen auch kindliche Bedürftigkeit auf.“ (Wiesendanger, S. 60)
Dem letzten Drittel gelingt aber ein schwules Leben auf festen Fundamenten nur dann, „ …wenn sie die Entwicklungsschritte der Kindheit, der Pubertät und der Adoleszenz tatsächlich bewältigt haben.“ (Wiesendanger, S. 61)
„Das Coming-out bezüglich seiner sexuellen Orientierung steht nämlich auch als riesige Chance dafür da, eine umfassende eigenständige Identität zu entwickeln, wobei die Integration der Homosexualität wohl ein bedeutsamer, aber nicht der einzige Schritt auf dem Weg zum selbstverantwortlichen schwulen Erwachsenwerden bedeutet. Die Erfahrungen aus dem Prozess zur inneren Akzeptanz der gleichgeschlechtlichen Orientierung können vielmehr als Schlüsselwissen dafür genutzt werden, sich ganz grundsätzlich mit seinem bisherigen Leben auf konstruktive Weise auseinander zu setzen.“ (Wiesendanger, S. 64)
„Wenn wir uns aber in unserem Kommunikationsprozess (gegen aussen) blockieren lassen, dann ist es aufschlussreich, hinzuschauen weswegen wir es tun. Und wenn wir dann bei uns eine solche Schonhaltung aufdecken, die sich ja unter dem Deckmantel der Nettigkeit gut tarnt, dann sollten wir diese Projektion auflösen und ganz zu unseren Gefühlen stehen, oder aber wir müssen uns ernsthaft mit unserer eigenen Depressivität auseinandersetzen.“ (Wiesendanger, S. 69)
„Wenn wir uns wirklich darauf einlassen, werden wir mit Sicherheit auf längst verdrängte und aufgelöst geglaubte Verbindungen zu unserer Kindheitsgeschichte stossen, in denen wir gelernt haben, uns gegenüber Autoritäten mit unseren Gefühlen verschwiegen zu halten, uns nichts anmerken zu lassen und stattdessen gehorsam ihren (heterosexuellen) Geschichten zu folgen.“ (Wiesendanger, S. 70)
„Die Tatsache, dass sich viele schwule Männer mit ihrem Coming-out schwer tun, ist daher ein deutliches Zeichen dafür, dass sie sich ihrer selbst entfremdet haben, und zwar meist unbewusst und schon früh in ihrer Entwicklung.“ (Wiesendanger, S. 82)
Die Selbstheilung führt, wie in der Pubertät auch, zu einer Auseinandersetzung mit der Umgebung, mit den Eltern, den Mitschülern. Der Antriebsmotor ist die Wut! Doch wenn diese Wut gegen sich selbst abgeleitet wird (innere Homophobie), wird sie dieses Ziel der Heilung niemals erreichen! Die Familie und die Gesellschaft aber haben ihre ungestörte Ruhe und ihre Fassaden bleiben stehen! Bleibt noch die Frage, wer soll mich lieben und wer ist der „Richtige“?
Wiesendanger sieht dahinter die verbreitete Fehlannahme, dass „lieben an sich einfach“ wäre, aber es sehr schwierig sei, den richtigen Partner zu finden. Gegen diesen richtigen Partner werden dann Illusionen, Wünsche und Begehrlichkeiten eingetauscht. Aber niemand stellt sich die Frage, wie er seine Fähigkeiten, „irgendjemanden zu lieben“ entwickeln könnte!
„… fehlt (ihnen) die Selbstliebe, jedenfalls zu einem grösseren Teil, … so können sie auch nicht jemand anderen wirklich lieben. Vielmehr machen sie sich unbewusst von anderen abhängig und versuchen auf diese Weise, die Anerkennung zu finden, die sie damals von ihren Eltern nicht erhalten haben.“ (Wiesendanger, S. 112)
„Die Erfahrungen aus der Kindheit sind zwar in der Tat für das Erwachsenenleben sehr prägend. Doch es geht bei der Suche nach dem wahren Selbst auf einer reifen Ebene gerade nicht um Schuldzuweisungen. Diese mögen zwar in einer nachgeholten pubertären Entwicklungsphase wichtig und richtig sein, doch beim Erwachsenwerden geht es um das Finden von Selbstverantwortung.“ (Wiesendanger, S. 120/121)
Kurt Wiesendanger hat in seinem neuen Buch die spezifischen Wachstums-Unterschiede zwischen hetero- und homosexuellen Männern dargestellt. Er weist auf die „anderen“ Entwicklungskompetenzen und –potenziale hin, die eine homosexuelle Biografie anbietet! Schwule sind nicht weniger, sondern „anderswertig“ – genauso wie Frauen auch! Der Autor legt sympathischerweise seine psychologische Ausrichtung und seine wichtige Literatur offen, so dass es möglich ist, auch aus anderen psychologischen Blickwinkeln seine Gedanken mit eigenen Überlegungen weiterzuentwickeln. Peter Thommen
Wiesendanger, Kurt: Vertieftes Coming-out, schwules Selbstbewusstsein jenseits von Hedonismus und Depression, 125 S. Vandenhoeck&Ruprecht, 2005, CHF 27.20
* Am 17. Mai 1990 strich die Generalversammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Homosexualität aus ihrem Diagnoseschlüssel. Sie wird seither nicht mehr als Geisteskrankheit klassifiziert. (Lambda Nachrichten, Wien, 3/2005. S. 27 – 3/2006, S. 26)
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