LITERATUR und HS – ein Gespräch über, Bern 1995

Oder gibt es keine „schwule Literatur“?  Diskussion mit: Guido Bachmann, Werner Catrina, Christoph Geiser und Fritz Kobi

Rund 170 Männer und einige Frauen kamen an das erste Treffen schwuler (?) Schriftsteller im anderLand-Begegnungszentrum in Bern. Homosexualität – in den 50er und 60er Jahren kein „Thema“ – war für alle übereinstimmend kein Auslöser fürs ‚Schreiben’. Guido Bachmann (1940-2003) kümmerte sich „einen Dreck“ um die Gesellschaft und schrieb einfach drauflos (Gilgamesch, 1966). Christoph Geiser (*1949, lebt in Berlin) arbeitete sich seit seinem Erstling (Zimmer mit Frühstück, 1975 – vorher Gedichte und Erzählungen, 60er) schon immer näher ans Thema heran. Die 70er liessen dann endlich etwas Raum für die Liebe zwischen Männern. (Nicht vergessen sei der Zürcher Alexander Ziegler, 1944-1987) Die „späten“ – Werner Catrina (*1943)  und Fritz Kobi (*1938) konnten in der neuen offenen Atmosphäre endlich zum Thema kommen. Beide arbeiten in der Werbebranche. Aber auch für sie war die Reaktion der unmittelbaren Umgebung (Geschäftspartner, frühere Schulkollegen und heutige gesellschaftliche Exponenten) persönlich wichtig. Es scheint, dass das Erleben der Autoren irgendwann auch in ihre Literatur einfliesst, früher oder später.

Das Gespräch, moderiert von Charles Clerc (ehemaliger Tagesschausprecher von SF), gestaltete sich „vorsichtig-tolerant“. Die Teilnehmer waren so verschieden wie nur möglich. Kobi und Catrina wollten gar ihre Texte unter den Scheffel stellen („mehr Reportage als Literatur“). Bachmann wollte schon in den siebziger Jahren eine Enttabuisierung feststellen (Gilgamesch-Roman als Pflichtlektüre im Gymnasium Oberwil). Aber ich mag mich noch erinnern, was Zieglers Bücher und Eskapaden in der Öffentlichkeit bewirkt haben…

Ich denke, alle vier Autoren dachten an das Lesepublikum zuletzt. Wichtig war ihnen der Prozess des Schreibens, des Transportierens und der Ergänzung in ihrer Literatur. Daher ist auch die Behauptung von Bachmann verständlich, dass es „keine schwule Literatur“ gäbe, der eigentlich nicht widersprochen wurde. Dies hob mich vom Stuhl mit der Frage, wozu es eigentlich schwule Buchläden gebe!?

Ich denke, diese Autoren haben sich zuerst und fast ausschliesslich mit Heterosexuellen auseinandergesetzt, respektive sich über diese hinweggesetzt mit ihren „homoerotischen“ Anteilen im Werk. Noch heute erinnert sich Bachmann an den Brief, den ich ihm vor 25 Jahren (1970) schrieb, als ich gerade seinen Roman „Gilgamesch“ gelesen hatte. Die Reaktion eines Schwulen auf seinen Roman war untypisch.

Muss man schwul sein, um schwule Existenz zu beschreiben? Christiane Rochefort (Frankreich) ist eine Frau, die solches kann! Aber warum thematisieren „heterosexuelle Autoren“ fast nie diese Seite des Lebens? Wenn dies in der Vergangenheit geschah, dann kriminalisierten sie schwule Figuren, machten sie verächtlich oder liessen sie als krank erscheinen. Bekannt ist von homosexuellen Autoren, dass sie oft Frauenfiguren führten (Proust, Gide, Wilde). Vieles der vergangenen Jahrhunderte wurde immer wieder ins heterosexuelle Klischee gepresst. Erst in den letzten Jahren sind Autoren, vor allem aus dem angelsächsischen Raum, dazu übergegangen (auch) für ein schwules Publikum zu schreiben! Die Übersetzungen in die deutsche Sprache fehlen aber nach wie vor (1995, PT). Die idealen Autoren, die schwules Leben so gewöhnlich wie heterosexuelles Leben behandeln, sind meines Wissens Yukio Mishima (Japan, 1925-1970) und James Baldwin (1924-1987). Mir hat man vor 25 Jahren noch Oscar Wildes „Bildnis des Dorian Gray“ (1890 geschrieben) in die Hand gedrückt. Sowas könnte ich heute einem jungen Schwulen kaum mehr geben!

Ich erinnere an die „Männergeschichten-Ausstellung von 1988 in Basel), an die Aufzeichnungen der Polizei (ZH, BS) in den 30er Jahren und ich erlaube mir, auf das Szeneblatt „Senf“ hinzuweisen (Archiv ARCADOS und Schweizerische Nationalbibliothek): Nur was gedruckt greifbar bleibt, hat inskünftig wirklich einmal stattgefunden. Erinnerungen sterben mit ihren Trägern. Es wird unterschätzt, wie wichtig es ist, als Teilnehmer von Subkultur nachträglich auch „darüber“ zu lesen! Das ist eben der Unterschied von gestern zu heute: Gestern war es nur ein Traum, ein Abstecher in den dunklen Park, ein Verschwinden in einer Rotlichtbar, ein dumpfer Schmerz von einem unbekannten Geliebten. Heute haben wir nicht nur geträumt – schwules Leben findet tatsächlich statt! Sonst würden die Schwulen nicht mit Argusaugen darauf achten, dass ihre Veranstaltungen in der Presse angezeigt werden und auch darüber berichtet wird. Ein schwules Leben ohne schriftliche Zeugnisse, ohne Rückmeldung in Medien, ist wie eine Welt ohne Spiegel. Du fragst dich immer wieder: „Gibt es das, gibt es mich wirklich“?

Hier wäre der Ansatz zur überfälligen Diskussion darüber, was schwule Literatur sein könnte und wie sich Autoren darauf einstellen könnten!   Peter Thommen (in Thommens Senf, Basel, 24.02.1995, 4. Jg. Nr. 8 )

Literatur: Bartholomae, Joachim: Wie der Keim einer Südfrucht im Norden. Kleist, Kafka und andere Aussenseiter der Literatur, MS 2012, 80 S. (b. ARCADOS erhältlich)

Dominique Fernandez hat aus französischer Sicht eine interessante Geschichte der homosexuellen Literatur geschrieben!

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