Edouard Louis – ein „subproletarischer“ Schwuler

Dieser „Begriff“ ist mir anlässlich der Grossratswahlen in Basel 1984 erstmals vor die Augen gekommen. Aber beim lesen seines Buches „changer méthode“ (2021)* ist mir klar geworden, was ein solches Leben beinhalten kann.

In seinem ersten Text, „Das Ende von Eddy“ (2014/ dt. S. Fischer 2015) hatte er sich sein coming out“ erschrieben“ und wurde damit zu einem „shooting star“. Anschliessend setzte er sich mit einer späteren weiteren Vergewaltigung auseinander (histoire de la violance), die ihm widerfahren ist. In weiteren Büchern schilderte er sein Leben mit dem Vater und dann der Mutter.

Nun beschreibt er intensiv, wie es ihm dabei erging, unbedingt „ein Anderer“ zu werden. Er wollte seine ganze Kindheit, seine verpasste Jugend und seine Herkunft „hinter sich lassen“. Ob ihm das gelungen ist?

„Auf diesem Weg spielen einander ablösende Bezugspersonen eine zentrale Rolle, die ihm jeweils neue Welten eröffnen und radikale Selbstveränderungen anstoßen. Durch Imitation versucht sich der Protagonist ganz den neuen Milieus anzupassen, die den ersehnten Bruch mit der Herkunft versprechen.“… „Habe er im Erstling erzählt, wie er als Kind alles dafür tat, sich anzupassen und trotz seiner Homosexualität nicht aufzufallen, wolle er nun beschreiben, wie er jede Anstrengung auf sich nahm, um einen Ausweg aus den bedrückenden Verhältnissen zu finden.“ (Riva, FAZ)

„Ich bin nicht gegangen, weil ich es wollte, ich wurde zur Flucht gezwungen, weil der Determinismus meiner Klasse, ihr Männlichkeitskult, mit dem Determinismus meiner sexuellen Orientierung, der Tatsache, dass ich schwul bin, kollidierte. Die Gewalt, die daraus resultierte, hat mich fortgedrängt. Ich war, wie Sartre sagen würde, dazu verdammt, frei zu sein…

Man kritisiert mich oft für diese Haltung, dafür, dass ich den Menschen die persönliche Verantwortung abspreche. Aber ich finde es viel optimistischer zu sagen, dass gewisse Situationen einen dazu bringen, seiner Herkunft zu entkommen, statt immer zu behaupten, dass dieser Impuls ganz unabhängig von allem aus einem selbst heraus entstehen muss.“ (Louis im Interview mit Annabelle Hirsch, FAZ)

Wer seine Veränderungen ermöglicht/begleitet hat: „Bei mir waren es meist Frauen, die mir geholfen haben, die Bibliothekarin, die Lehrerin. Sie haben mir einen Zugang zur Kultur verschafft,  zu Büchern, Filmen, Theaterstücken. Für Menschen wie mich, die sich immer fehl am Platz gefühlt haben, ist das sehr wichtig. Nicht nur wegen der Werke, sondern vor allem wegen der Menschen, die im Kulturbereich arbeiten.“ … Sie eröffneten ihm neue Lebens- und Denkräume, um sich in der Gesellschaft auch mit anderen Schwulen zu befassen.

„Man will die Leute an ihrem Platz halten und tadelt sie, wenn sie es nicht tun. Man sagt, sie würden lügen, manipulieren, sich für etwas ausgeben, das sie gar nicht seien, man nennt sie „Parvenü“ oder in Frankreich „Rastignac“, nach dem Helden von Balzac. Die Literatur ist voll von solchen Figuren, meist sterben sie am Schluss, so wie die Frauen, die zu viel wollten, so als müsse man sie für den Hochmut bestrafen, geglaubt zu haben, entkommen zu können. Das ist eine sehr brutale und subtile Form der Zurechtweisung und der Unterdrückung, gegen die ich mich auflehne.“ (Edouard Louis im Interview mit Annabelle Hirsch)

„Durch Imitation versucht sich der Protagonist ganz den neuen Milieus anzupassen, die den ersehnten Bruch mit der Herkunft versprechen. So etwa an Elena und ihre kultivierte bürgerliche Familie, der im Buch große Bedeutung zukommt – nimmt sie den besten Freund der Tochter doch gleichsam als neues Mitglied bei sich auf … So weit ihn auch die Flucht trägt, in den neuen Milieus kommt er nicht an, fühlt er sich nicht zugehörig und nicht glücklich, sodass die Flucht zur nicht enden wollenden Odyssee wird.“

Habe er im Erstling erzählt, wie er als Kind alles dafür tat, sich anzupassen und trotz seiner Homosexualität nicht aufzufallen, wolle er nun beschreiben, wie er jede Anstrengung auf sich nahm, um einen Ausweg aus den bedrückenden Verhältnissen zu finden. Das aktuelle Buch positioniert er so gleichsam als ein zweites, das erste komplementierendes Hauptwerk. Wie Louis gegenüber der Tageszeitung Le Monde sagte, habe er an „Changer: méthode“ nicht weniger als vier Jahre lang gearbeitet und dabei immer wieder frühere Entwürfe verworfen. (Riva, FAZ)

Es gibt auch Unverständnis in der Diskussion um seine Texte: „Edouard Louis hat die Wehleidigkeit zum literarischen Programm erhoben. Und in der Disziplin Schamlust hat er es inzwischen zu grösster Meisterschaft gebracht. Keiner kultiviert hingebungsvoller den Selbstekel… Zu allem anderen aber mangelt es Edouard Louis an der Bereitschaft, das eigene Leid und den selbstzerstörerischen Umgang damit nicht nur plakativ auszustellen, sondern mit aller Schärfe des Verstands zu durchdringen.“ (Roman Bucheli in der nzz vom 31.10.22, S, 30)

So würde heute wohl kein Kritiker mehr mit Texten von betroffenen Frauen umgehen. Das zeigt, wie fern die öffentliche Diskussion immer wieder von den Zusammenhängen zwischen der Situation von Schwulen und von Frauen ist. Letztere mussten sich auch langwierig durch ihren Verstand selbst ermächtigen.

Als Zeitgenosse der Schwulenbewegung ärgert es mich immer wieder, dass die Erkenntnisse von damals über Männlichkeit und Frauenleid und sexuell motivierte Gewalt aus aller Öffentlichkeit und auch innerhalb von schwulen Gruppen „verschwunden“ sind. So findet keineR mehr den Faden zu Selbsterkenntnis. Und dies dann zum Vorwurf zu machen, wie es Bucheli tut, ist unredlich.

Peter Thommen_72, Schwulenaktivist, Basel

1984 gingen POB, PdA, SAP und die „Spatzen“ als kleine Parteien mit Kleinstgruppen eine Listenverbindung ein. Es meldete sich in der Presse auch eine „Aktion zur Besserstellung des Subproletariats“ für soziale Randgruppen wie: Subproletarische Schwule, Prostituierte, Fixer, Obdachlose, Alkis, Haschisraucher usw) Fundsache im come out Nr. 35, Jan. 1992

* deutsch „Anleitung ein Anderer zu werden„, aufbau 2022, 272 S.

Zitate aus:

Miguel de la Riva: Ausbruch nicht mehr ausgeschlossen, FAZ 16.11.21

Annabelle Hirsch: Was es für mich hiess, zur Freiheit verdammt zu sein, Interview mit Edouard Louis, FAZ 11.09.22

Roman Bucheli in der nzz vom 31.10.22, S, 30

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Dieser Blog wird zu einem Archiv-Blog umgebaut

Mit Listen und Hinweisen auf schwule Hinterlassenschaften! 😉

Siehe auch die beiden anderen Blogs

Thommens Senf    arcados.com    und meine aktuelle Publikation    swissgay.info

Peter Thommen

AKTUELL siehe „Nicht der Homosexuelle ist pervers…  1971“

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Schwule „unzüchtige“ Texte 1977

Ein halbes Jahr nachdem ich meinen Buchladen eröffnet hatte, publizierte der schwule Verlag rosa Winkel in Berlin einen aktuellen Anthologieband mit dem Titel „schwule Lyrik, schwule Prosa“.

Aus einem neckischen Grund schickte ich ein Exemplar an die damals zuständige Bundesanwaltschaft in Bern zur „Vorbeurteilung“. Nach einiger Zeit erhielt ich es zurück mit der Qualifikation: Unzüchtig. Das bot mir eine Steilvorlage für die Öffentlichkeitsarbeit.

Die damalige „Basler Zeitung“ schrieb u.a.: „Für die schweizerischen Homosexuellen-Organisationen drängt sich der Verdacht auf, dass unter dem Vorwand der Unsittlichkeit die autonomen Äusserungen der Homosexuellen zensiert werden sollen.“ Auf deren Rückfrage erklärte Ulrich Hubacher, das fragliche Buch nun enthalte zwar verschiedene wertvolle Beiträge, daneben aber auch solche, die zweifelsfrei den Tatbestand der unzüchtigen Veröffentlichung erfüllten. Im übrigen stehe es jedermann frei, das Buch im Ausland zu bestellen. Sendungen an Private könnten gemäss einem Bundesgerichtsentscheid aus dem Jahre 1974 nicht beschlagnahmt werden.

Das witzige war, dass unter dem Brief- und Postgeheimnis nur der Zufall die zollamtliche Öffnung einer Sendung veranlassen konnte. So hatten verschiedene Einfuhrversuche per Post oder hinter dem Zoll bei Entdeckung keine strafrechtlichen Konsequenzen, da es sich nur um „Zollvergehen“ handelte.

In der NZZ las ich dann aber 2014 folgende Leserin-Reaktion: „Als ich bereits erwachsen war und im Zusammenhang mit einem homo-erotischen langjährigen Freund mehr darüber erfahren wollte, wie er und seine Freunde damit leben/zurechtkommen, gesellschaftlich ausgegrenzt zu werden, bestellte ich in Deutschland einige Sachbücher (von rororo zB.) – statt der Bücher erhielt ich ein Schreiben von der Bundesanwaltschaft dass die Bücher am Zoll beschlagnahmt worden seien, da in der Schweiz unerwünscht! Zu wahr, um lustig zu sein! Tina aus dem Bernbiet.“ (Kommentar zum Thema Telearena 1978, in NZZ 8.9.14)

Ich habe damals u.a. wie folgt kommentiert: „Wir befinden uns in einer Umbruchszeit der politischen, das heisst öffentlichen Normen und Werte. Das liberale Gedankengut in unseren Gesetzen lässt uns (den Gerichten) recht grosse Handlungsspielräume in ihrem Umgang. Es liegt an den Politikern, respektive den öffentlich gewählten Richtern diese Spielräume im intensiven und nicht mehr expansiven Rahmen der Norm auszufüllen. Der bisherige expansive Rahmen ist nach dem Prinzip des „Gewährenlassens“ geschaffen: Je mehr du arbeitest und damit Profit bringst, desto mehr darfst du Sex und möglichst Kinder machen… Er würde auch eine freie und offene Information zulassen und das ‚Zurschaustellen‘ in unserer Gesellschaft wesentlich reduzieren. Glaubwürdige Parlamentarier setzen auf das Volks und nicht auf einen ‚Volksgerichtshof’“.

An den Generalsekretär des Eidg. Justiv und Polizeidepartementes schrieb ich damals u.a.: „Wenn nun die Beschreibung, respektive die literarische Beschreibung homosexueller Beziehungen und Kontakte und damit deren Diskussion verhindert wird, dadurch, dass die Verbreitung schriftlicher Unterlagen verboten wird, so verstösst das gegen das Gleichheits- und Gleichbehandlungsprinzip. Es gibt im derzeitigen Buchangebot einen nicht unbeträchtliche Menge Literatur, welche ähnliche Ziele verfolgt wie dieses Buch. Allerdings steht da die Heterosexualität im Mittelpunkt.“ (10.10.1977)

Ich erhielt auf meinen Brief nie eine Antwort.

Diverse linke und alternative Verlage aus Deutschland und in der Schweiz schrieben eine Protestveröffentlichung.

Elmar Kraushaar: Schwule Lyrik, schwule Prosa, eine Anthologie. Verlag rosa Winkel 1977, 256 S. (nur antiquarisch)

„Als ich bereits erwachsen war und im Zusammenhang mit einem homo-erotischen langjährigen Freund mehr darüber erfahren wollte, wie er und seine Freunde damit leben/zurechtkommen, gesellschaftlich ausgegrenzt zu werden, bestellte ich in Deutschland einige Sachbücher (von rororo zB.) – Statt der Bücher erhielt ich ein Schreiben von der Bundesanwaltschaft dass die Bücher am Zoll beschlagnahmt worden seien, da in der Schweiz unerwünscht! Zu wahr, um lustig zu sein!  Tina aus dem Bernbiet.“ (Kommentar zum Thema Telearena 1978, in NZZ 8.9.14)

Die damalige Pressedokumentation als PDF

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Bürgerliche, Traditionalisten, hetero Sexisten und Maskulinisten …

Seit Schwule sich um Informationen für Heterosexuelle bemühen, wurde ihnen immer wieder Widerstand entgegengebracht. In der letzten Zeit griffen Heteros sogar zu Kampfmassnahmen aller Art, wie Demos und politischer Bremsung von Bildungsmassnahmen.

(Siehe arcados.com > Dokumente Emanzipation, Repression > 2005 St. Gallen und 2006 Neuenburg, um auf neuere Vorkommnisse hinzuweisen!)

In den „Hirschfeld Lectures“ ist nun ein Bändchen erschienen, von Elisabeth Tuider und Martin Dannecker, mit dem Titel „Das Recht auf Vielfalt“ (*), welches ich als Antwort auf diverse Vokommnisse in Deutschland verstehe.

In den Anfang 2014 begonnenen Debatten um den Bildungsplan in Baden-Württemberg wurde der Versuch der rot-grünen Landesregierung, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt als Querschnittsthema im Schulunterricht zu etablieren, zum Ausgangspunkt von homophoben und antifeministischen Angriffen in den Medien und aus der Zivilgesellschaft.“

Die 9. Hirschfeld-Lectures am 17. September 2015 in Düsseldorf wollten genau diese Diskrepanz aufgreifen… Wie könnte eine – als Querschnittsthema angelegte – Sexualpädagogik der Vielfalt funktionieren? Was wären ihre theoretischen Prämissen und methodischen Ansätze?

Der vorliegende Band fragt nach den Mechanismen und Mustern der homophoben und antifeministischen Angriffe und danach, wie die häufig heraufbeschworene Bedrohung durch eine vermeintliche Sexualisierung einzuordnen ist. Sexualerziehung scheint heute zu einer Streitfrage geworden zu sein, einem Feld, auf dem verschiedene politische Interessen ebenso verhandelt werden, wie Fragen gesellschaftlicher Anerkennung gegenüber geschlechtlicher und sexueller Diversität.“

Beiträge von Burkhard Jellonek, Pädagoge, und Publizist über historische Schwulenverfolgung, Elisabeth Tuider, Sozialwissenschaftlerin an der Universität Kassel, sie hat bereits Erfahrung mit „shit-storms“ und Morddrohungen – sie geht auch speziell auf antifeministische Diskurse ein, und Martin Dannecker, Sozialwissenschaftler, der bereits vor Jahren vor „rollbacks“ warnte.

Derzeit, so meine These, können wir die Re-/Normierungen des Sexuellen über die Diskursivierung (1) von sexueller Vielfalt und einer Sexualpädagogik der Vielfalt beobachten.

Insbesondere die hasserfüllte Rede („hate speech“/Butler) ist das Mittel zur Regulierung und Re-/Konfigurierung von Normalität.“ (Tuider)

Ich bin der Ansicht, dass sich Definitionen aus Selbstbestimmungen der Betroffenen ergeben sollten und nicht aus irgendwelchen „politischen Korrektheiten“. Das fing in den 70er Jahren in der Schweiz damit an, dass sich die „Schweizerische Organisation der Homophilen“ in eine der Homosexuellen umbenannte. Die Homosexuellen-Organisationen der öffentlich Auftretenden nannten Schwul- und Lesbischsein ‚beim Namen‘!

Heute ziehen sich Junghomos und Homo-Lobbyisten eher wieder auf „die Liebe“ zurück. Wie LondonJames (*1985) so schön schreibt: „Und wenn sie die normalen Rechte haben wollen, sprich heiraten, heisst es in den Akten schlicht und einfach: verheiratet. Dann braucht es weder ein coming out am Arbeitsplatz oder sonst wo. Man wird nicht blossgestellt.“ (2)

Nebst der „Zurückhaltung“ der Betroffenen wollen aber bestimmte politische Kreise auch wieder zur traditionellen Politik der Angstmacherei zurückkehren. Heute geht das über die Schiene der angeblichen „Sexualisierung“ von Kindern und – wie Peter Winkler in der NZZ kürzlich feststellte – in den USA mit der Angst vor „Transsexuellen“. (3)

Diese Kreise beschränken sich bei weitem nicht auf Klerikale und Religionsgläubige und umfassen auch Frauen aus allen Schichten. Ich glaube, dass diese Ängste auf der Basis der Verfügungsgewalt über die „Früchte der Fortpflanzung“ politisch aktiviert werden können. Wir sehen das auch bei Kindesentziehungen und – Entführungen – nicht nur über Kulturen und Traditionen hinweg. Das Kind ist (möglichst lange natürlich) Eigentum der Familie, oder der Mutter, oder des Vaters. Wir sehen das an Familien, die ihre Kinder in den eigenen Räumen „schulen und ausbilden“ wollen, zum Beispiel nach biblischen Grundsätzen! Witzig daran ist, dass diese Kreise nicht sehen, dass sie selbst das praktizieren, was sie „anderen Religionen“ vorwerfen!

Ängste (Homophobie) schüren ist das eine, aber es gibt auch feindliche Stellungnahmen aus beschränkter Sicht, oder beharrlicher Realitäts-Verweigerung, wie beim Antisemitismus auch. Meinungen sind immer verdächtig, bereits „gefressen“ zu sein, weil sie angeblich ihrem Träger Sicherheit vermitteln sollen, oder seine eigene unbewusste „Betroffenheit“ überdecken müssen.

Ein weiteres Beispiel bildet die sexualpädagogische „Umerziehung“, die mit der Gender-Debatte an die politische Wand projiziert wird. Dabei sollten die Heterosexisten eigentlich wissen, dass ihre „Hetero-Umerziehung“ von Schwulen ja auch nicht funktioniert. Also grosse Verdrängungsleistungen nach allen Seiten. Auch Homosexuelle sind selber davon betroffen, wie ich oben am Beispiel von LondonJames dargelegt habe.

Doch im selben Zeitraum wird medial nicht nur „Sexualisierung“ sondern auch Missbrauch diskursiv mit dem sexualpädagogischen Reden über Sexualität verbunden.“ (Tuider)

Inwiefern sexuelle Minderheiten aber von der Mehrheit missbraucht werden, ist kein abendfüllendes Thema. (Die Diskussion über die Mehrheit habe ich schon 2009 geführt! arcados.ch > Heterosex > Welche Mehrheit?) Die Diskussion dreht sich nur darum, wie die allgemein als herrschend und frauschend eingeschätzten Normen und Mehrheiten (durch selbstverständlichen Missbrauch gegenüber Minderheiten) möglichst vollständig „eingehalten“ werden können. Dabei ist das im wortwörtlichen Sinne eine sich selbst fortpflanzende Doppelmoral/Illusion.

Hasserfüllte Sprache und Postings sind eine Form von Gewalt, ähnlich wie Blicke unter Frauenröcke. Dabei lernten wir in der Schwulenbewegung, damit umzugehen und die Formen und Wirkungen einigermassen zu verstehen. Das fehlt heute den Junghomos und Lobbyisten weitgehend wieder.

Martin Dannecker nimmt in seinem Beitrag das Problem bei den Hörnern! „Dass die Sexualpädagogik der Vielfalt diese Idealisierung der Heterosexualität, die immer mit einer Abwertung der nicht heterosexuellen Sexualitäten einhergeht, unterläuft, ohne freilich der heterosexuellen Orientierung und heterosexuellen Lebensformen ihr Recht abzusprechen, wird ihr von den KritikerInnen rachesüchtig vorgehalten.“

Er meint, dass die Hierarchie der „besseren“ Orientierung oder Lebensweise durchbrochen wird, um mehr Gerechtigkeit herzustellen gegenüber all „den anderen“. Nun, diese Diskussion stellt sich ja wiederum bei der Forderung nach Öffnung der Ehe, mit Verlaub! 😉 Meiner Ansicht nach findet schon längst eine Heterosexualisierung der Homos statt und nicht umgekehrt, wie behauptet wird.

Die Erkenntnis, dass es seit dem Talmud in allen Schriften kulturell darum ging, Normale in ihrer Normalität zu bewahren, während eigentlich die „Anderen“ nicht so interessant waren, sollte sich endlich weiter verbreiten. Ausserdem war die sexuelle Praktik zwischen Männern immer ein Ärgernis unter vielen anderen, die heute übrigens auffälligerweise keine Rolle spielen…

Mit Pornografie im Internet kommen Jugendliche heutzutage fast alle in Berührung. Allerdings gibt es in dieser Hinsicht bedeutsame geschlechtsspezifische Differenzen. Mädchen sind weitaus weniger an Pornografie intereressiert als Jungen.“ (Dannecker)

Mit Verlaub, Herr Professor, darüber nachzudenken würde sich sicher lohnen – besonders aus dem schwulen Blickwinkel! Ich erinnere daran, dass die „Pornografisierung“ in der Gesellschaft vor allem dazu dient, Männer an die Frauen als Lustobjekt zu erinnern, während Sex unter Männern immer konsequent kriminalisiert worden ist. (4) Da passt irgendetwas in der Natur nicht zueinander… 😉

Der Sexualpädagogik fällt die Aufgabe mit Jugendlichen über ihre sexuellen Erfahrungen im Netz zu reflektieren – wozu selbstverständlich auch das vor allem an Mädchen herangetragene Sexting, also das Herstellen und Weiterleiten von sexuell aufgeladenen Bildern – auch deshalb zu, weil sie darüber mit ihren Eltern in der Regel nicht sprechen wollen oder können.“ (Dannecker)

Hier ist auch die Frage zu stellen, welche Gründe das haben mag! Weiter unten weist Dannecker nochmals auf die individuelle Eigenheit von Jugendlichen und ihrer Sexualität hin, die sie von ihren Eltern trennt. Dazu gehört aber auch die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche – um es mal ganz allgemein zu formulieren – ihre Eltern fast immer als asexuelle, zumindest auch a-erotische Menschen erleben. Und hier wiederum die Tatsache, dass homosexuelle Männer sich viel öfter Zärtlichkeiten oder Berührungen zukommen lassen. Dies wird aber als „Jugendgefährdung“ interpretiert, besonders bei schwulen Eltern – bei lesbischen wird es nicht dramatisiert.

Peter Thommen_66, Buchhändler, Schwulenaktivist, Basel

Tuider/Dannecker: Das Recht auf Vielfalt. Aufgaben und Herausforderungen sexueller Bildung, Hirschfeld Lectures Bd. 9, Wallstein Verlag 2016, 50 S. CHF 13.50

1) gemeint ist die aktive methodische Einflussnahme auf Definitionen und Begriffe in der Sprache

2) siehe swissgay.info nr. 5, März 2016

3) NZZ vom 15. April 2016

4) Ich erinnere mich an ein Telefonat mit jemandem von der damals zuständigen Bundesanwaltschaft in Bern, der dazu nur sagte: Bei den Frauen sieht man ja halt nichts…

Siehe auch meine Bemerkungen über „Frauen und Schwänze“ > Thommens Senf (arcados.com)!

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eine schöne Fresse!

Was man damit anfangen kann, das erzählt uns Edouard Louis in seinem autobiographisch gefärbten Roman „das Ende von Eddy“. Für viele ist nicht klar, warum er ein „Ende“ beschreibt. Das tut er, weil er mit seiner Kindheit und Jugend endgültig abgerechnet hat. Der Roman ist seine Abrechnung mit allem und allen. Darum hat er sich auch einen neuen Autorennamen zugelegt.

Ich habe die Geschichte von Eddy erzählt, ein Porträt des Dorfes gezeichnet, in dem er aufwächst, der Menschen, die ihn umgeben, um die Erfahrung des Dominiertwerdens greifbar zu machen.“ (1)

Das heisst also, dass er sein „persönliches“ Drama in den politischen Zusammenhang stellt. So wie es die Schwulenbewegung gemacht hat. „Im Flur fragten sie mich, wer ich sei, ob ich wirklich Bellegueule sei, über den alle reden. Sie stellten mir jene Frage, die ich mir dann selbst stellte, monate-, jahrelang, bist du der Schwule?“ (2)

Wie viele schwule Kinder fragte er sich, woher das kam, was andere „Schwuli“ nannten: „Meine Eltern nannten das „Getue“. Sie sagten: Lass doch das Getue. Sie wunderten sich. Warum benimmt Eddy sich wie eine Tussi? Sie sagten: Reg dich ab, muss das sein, dieses tuntige Gefuchtel. Sie dachten, es sei meine Entscheidung, dass ich mich so benahm, als wäre das eine Ästhetik, die ich kultivierte, um sie zu ärgern.“ (3)

Die Metapher vom „schwulen Kind“ gibt es noch gar nicht. Die Eltern stossen sich daran, weil es ihnen etwas sichtbar macht, das sie ja „gar nie vermittelt haben“! Nach der bewährten Hetero/a-Legende: So etwas gibt es in unserer Familie gar nicht.

Auch der Versuch, sich in die Mädchenkleider seiner Schwester zu stürzen, erschien ihm schliesslich zu absurd.

In der Mittelschule ausserhalb seines Dorfes war er mit neuen Leuten konfrontiert, die ihn neu taxierten. Ein Schüler liess ihn vor den Kollegen auf und ab laufen. Er sagte zu ihnen: „Passt mal auf, wie der läuft, total schwuchtelig, und er versprach ihnen, sie würden was zu lachen haben. Als ich mich weigern wollte, machte er mir klar, dass ich keine Wahl hatte und dafür büssen würde, wenn ich mich weigerte. Wenn du es nicht machst, kriegst du ein paar aufs Maul.“ (4)

Es ist erstaunlich, wie das Kind und der Jugendliche sich an der Rolle der Männer, dem Dorf und seiner Familie abarbeiten musste. Er porträtiert die Mutter, die Familie und die Menschen um ihn herum mit Geschichten aus ihrem Leben – bis ins Schlafzimmer der Eltern. Auch die sexuellen Übergriffe von heterosexuellen Jungs bekommen ihren Platz. Wir sehen, wie gewisse Sexualfantasien entstehen, sich verstärken und etablieren können.

EdLouis

Edouard Louis

Alles was man nicht hören wollte, wurde als Privat-angelegenheit ausgelegt. Mich hat es interessiert, diese Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem neu auszuloten.“

In allen Ländern, in denen der Roman bisher erschienen ist, wurden beide Themen, Klasse und Homosexualität, immer zusammen gesehen. Genau darum ging es mir ja auch, zu zeigen, wie sich beides bedingt. Schwul zu sein im Iran, in Russland, im Marais in Paris, in Berlin, oder in einem kleinen Dorf in Nordfrankreich, ist eben nicht dasselbe.“ (1)

Er versucht erfolglos zu fliehen. Er versucht auch, eine Freundin zu haben. Erst der Wegzug an eine höhere Schule und in ein Internat ermöglichen es ihm schliesslich, mit seiner Vergangenheit abzuschliessen. Und mit dem Namen Edouard Louis ist sein Leben als Edouard Bellegueule definitiv beendet.

Edouard Louis: Das Ende von Eddy, S. Fischer 2015, 205 S. ISBN 978-3-10-002277-6

Auch die französische Ausgabe ist lieferbar! Und die italienische besorgt ARCADOS auch!

1) Edouard Louis im Interview mit Friederike Schilbach

2) EL, dt. S. 13

3) EL, dt. S. 24 (hierzu sh. im Interview bei France Culture wie er – ab min 9’55 mit den Händen spricht!)

4) EL, dt. S. 32

Besprechung im „Spiegel“

SRF2 Kultur

Interview mit dlf

Epilog

Erfreulich, wie ein Junge die Worte wieder findet, die schon frühere Generationen formuliert haben! Und die „Tränen“ der Heteros darüber sind so heuchlerisch. Jedesmal müssten sie sich fragen, wer die Verantwortung dafür trägt und jedesmal wird das ausgeblendet. Auch wenn geschrieben wird: „Seine Tränen sind politisch!“ Denn niemals hatte es Konsequenzen in der Politik. Es wurden die juristischen Vergewaltigungen beseitigt, denn damit drang nichts mehr in die Medien und die Öffentlichkeit. Selbst die anale Vergewaltigung durch Heteros wird in keinen Interviews, die ich gesehen habe, thematisiert. Denn eigentlich ist ja immer der Schwule der Täter an den Heteros. Und so soll es ja auch weiterhin bleiben. Auch in der Sicht von Frauen. Denn wenn es „gebürtige Schwule“ geben würde, stimmte das Bild nicht mehr vom verführten und sexuell missbrauchten männlichen Kind! Es wäre zu revolutionär.  Peter Thommen

 Der Text als PDF

Edouard Louis und die Wahlen 2017

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Rechtskonservative und Linksliberale

Gabriele Kuby’s „Die globale sexuelle Revolution“ Darin legt sie dar, warum sie gegen die sexuelle „Freiheit“ ist und was sie im Eigentlichen gegen die Homosexualität, die männliche natürlich, hat. Kuby ist ursprünglich evangelisch und dann zum Katholizismus übergetreten. Bei ihr kann man nachlesen, was die Rechtskonservativen missverstehen an Gender-Theorie und am „Relativismus“ in der Sexualkultur. Mir ist während des Lesens aufgefallen, dass sie „ausgewählte“ Studien zitiert und einen grossen Bogen um Thematas macht, die reale Verhältnisse in der realexistierenden Familie kritisieren.

Für die bei uns noch anstehende Diskussion mit den Rechtskonservativen und Gläubigen, wie Chaaban, Riklin und Konsorten wichtig! Da können wir uns politisch vorbereiten!

Ulrike Heiders „Vögeln ist schön“: Die Sexualrevolte von 1968 und was von ihr bleibt. Heider schaut zurück in die Anfänge des Aufstands gegen die Moral der Kriegs- und Nachkriegszeit, die Rolle des Konsumismus und die Bedeutung der Frauen in der industrialisierten Gesellschaft. Schön zeichnet sie nach, wie die Zensur langsam fiel und mehr Fleisch gezeigt werden konnte. Sie schildert ihre Mütter- und Vätergeneration und wie sie sich daraus befreien konnte. Sie erinnert sich an die Auseinandersetzungen mit der Linken, den Frauenbewegungen, der Feministinnen und der Schwulenbewegung. Sie liefert das Material, das gegen Cohn-Bendit und die Grünen verwendet wurde und setzt es in den historisch-kulturellen Zusammenhang, wie es sich gehört!

Sie erinnert uns aus gutem Grund an die Zusammenhänge von Wirtschaft und Sexualität, sowie den Unterschied von Marktfreiheit und sozialem Freiraum. Sie bringt uns auch die ehemals prägenden und wichtigen Bücher, die diskutiert wurden, nahe, indem sie dieselben wiedergelesen hat und kurz zusammenfasst. Auch Alice Schwarzer und ihre letztlich zwiespältige Rolle wird von ihr eingeordnet.

Sie spannt den Bogen von den Frühsozialisten und Sexualreformerinnen bis zur aktuellen SM-Diskussion und zu Judith Butler und macht sichtbar, wie hin und hergetrieben unsere Sexualkultur sich entwickelt (hat)!

Das Buch ist stark BRD-orientiert und die Einblicke in den SDS, in die Kommunen und WGs und die deutsche Politik könnten die Geduld strapazieren. Auf jeden Fall ist ihre respektable Arbeit ein Informationsgewinn. Mit dieser Frau möchte ich mal diskutieren können!

(Bei ARCADOS am Lager!)

Hier das detaillierte Verzeichnis von Kuby’s Buch

Barbara Eder: Die Linke und der Sex, Promedia 2012 – hier ein Interview mit der Autorin, in welchem sie die Vorstellungen von Linken und Rechten vergleicht.

Hier eine andere christlich-konservative Stimme:  Christl R. Vonholdt: HS verstehen (sic!)

Tischler, schwul, 14

esoterisch oder so! 🙂

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coming out ist lebenslang!

Der „coming out day“ wurde 1988 in den USA ins Leben gerufen, um jährlich daran zu erinnern, dass es irgendwann eine Linie im Leben eines Mannes gibt, die ihn zu einer Selbsterkenntnis und zur Wahrnehmung durch Andere führt.

Für die heterosexuelle Kultur ist das etwas ganz Selbstverständliches! Unter Jungs die erste Ejakulation, in der Schule der erste Schulschatz, der „mit einem geht“. Später der erste Kuss und der erste Koitus! Alle freuen sich darüber und Eltern warten meistens auf diese „ersten Male“. Auch nicht mehr solange bis zur Verlobung oder Heirat…

So hat jedeR Hetero/a einen natürlichen Verlauf von coming out als Person, als Sexualpartner und Bezugsperson. Und selbstverständlich sind sie stolz darauf, wollen die Freude der ganzen Welt erzählen! Dazu gibt es triviale und literarische Vorlagen, Filme, und Musik, oder heute das fb, das Iphone und die verschiedensten Apps…

Eigentlich könnten sich ja alle auf denselben Plattformen bewegen. Aber das würde nur „stören“! Da schleichen sich die viertel-, die halb- und die „ganzseidenen“ Heteros lieber in die schwulen Plattformen hinein.

So ist es Tradition, dass die Schwulen ganz eigene Kontaktebenen entwickelt haben. ARCADOS war der erste schwule Buchladen im deutschsprachigen Raum (1977). Wenigstens der erste, der als solcher auch so offen auftrat, mit einer handvoll deutschsprachiger Bücher.

In den 70er Jahren gab es nur furchtbar verkopfte Bücher, vor allem linker Provenienz. (Homosexualität als „Nebenwiderspruch“!) 😛

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In den 80ern kamen dann die „unkomplizierten“ Taschenbücher – sogar in allgemeinen Verlagen wie Rowohlt! Unvergessen „schwul na und?“ von Thomas Grossmann (1981) Sie kamen im outfit jener Zeit daher und vermittelten Luft. Besonders in Erinnerung eine Zeichnung: Ein Vater am Bett einer Domina, mit Hundehalsband: „Hab ich dir eigentlich schon erzählt, dass mein Sohn ein perverser ist? Stell dir vor er ist schwul!“

Ein Jahr später: Männer. LiebeEin Handbuch für Schwule und alle, die es werden wollen.“ von Matthias Frings und Elmar Kraushaar (1982) Sie gaben Einblick in die Szene, die Ikonen und das Privatleben. Sogar die Schwulenbewegung kriegt ihr Kapitel darin. Ein wunderbares Zeitbild.

Dann kam 1984 eine Handreichung für Eltern, wiederum von Thomas Grossmann. Doch ihr Einbezug war schwierig, wegen der Familiensituation.

Schliesslich „Beziehungsweise andersrum schwul – und dann?“ nochmals von Grossmann. In allen diesen Büchern fand eine Auseinandersetzung mit sich und Anderen statt. Der Leser bekam eine vielfältige Sicht auf Biographien und Lebensläufe. Schwulsein öffnete sozusagen die bürgerliche Sicht auf das Leben in seiner schwulen Vielfalt. Doch davon ist heute nicht mehr viel übrig geblieben.

Eigentlich geht es den Schwulen wie den Kindern! Sie erhalten Sexualinformationen, die eigentlich ihrer Lebensweise schon vorgefertigte heterosexuelle Erfahrungen und Empfehlungen vorgesetzt bekommen. Schwulen Sex macht man, mit dem Ziel den Mr. Right gleich fürs Leben zu finden. Dazu braucht es – wie bei den Frauen – viel Kosmetik, sowie Sport, Fitness, Parties und Ferienreisen…

Eine Meditation oder Auseinandersetzung ist nicht mehr nötig. Es kommt auf die Accessoires und die Fetische an. Zudem steht uns das Kamasutra mit allen möglichen Sexualpraktiken zur Verfügung, so dass es uns eigentlich bis 80 nicht langweilig werden kann! Hä?

Schwule sind inzwischen nur noch eine Gruppe unter vielen Sexualorientierungen, wie Asexuelle, Transsexuelle und andere. Wir sind zu einer Minderheit in den Minderheiten geworden. Der Buchladen als Treffpunkt hat sich längst überlebt. Schon ARCADOS wurde übrigens mit dem Vorwurf eines „Pädophilentreffpunktes“ – noch im letzten Jahrhundert – angegriffen. Redet keineR mehr davon heute… So schlimm kann es also nicht gewesen sein! 😉

Es gibt aktuell auch keine Bücher mehr für Jungs, die wissen wollen, was auf sie wartet. Das suchen sie sich im Internet zusammen. Oder stellen ihre Sexualität selbst darin dar. Aber das ist den Heter/as ein Dorn im Auge. Mittels Kriminalisierung von „Kinderpornografie“ (bald bis 18) versucht Frau, dies wieder in den Griff zu bekommen. Meistens fehlt auch die Angabe, was denn genau darunter verstanden werden muss. Kann jedeR die schlimmsten Sachen damit meinen – eine inhaltliche Auseinandersetzung darüber ist obsolet.

Die aktuellen Sexualinformationen werden von den Aidshilfen produziert und verteilt und diese wiederum nehmen Rücksicht auf die Kontrolle aus der Politik. Kein wagemutiger grösserer Verlag mehr und schon keiner, der an schwulen Käufern interessiert ist. Die meisten Kinder- und Jugendbücher zum Thema werden von Frauen geschrieben und sind so ziemlich „asexuell“.

Das relativ neue „Milchbüechli“ (aus Baden) nimmt sich – auch mit Unterstützung staatlicher Stellen – der Sexualinformation – jetzt verschiedenster – Minderheitengruppen an. Aber wenn es um Analverkehr geht, dann sollte schon klar werden, dass es bei Frauen und Männern nicht das gleiche Gefühl und die Wirkung sind. In der aktuellen Nummer fünf gibt es Rat: „In Pornos habe ich gesehen, dass mit Urin Sexspiele gemacht werden, ist das normal?“(J. -17 J.)

Die sehr „weibliche“ Antwort darauf ist: „Um herauszufinden, was dir gefällt, probierst du es am besten aus. Herumexperimentieren macht Spass…“ Klar, dann sind die Leute beschäftigt. Und es muss sich für die Beteiligten „gut anfühlen“. (S. 15)

Jeder Fetisch ist dann „normal“, wenn er auch von allen verstanden wird – und nicht nur Spass macht. Wir halten es allgemein auch mit „der Homosexualität“ so! Anstelle der Fachausdrücke ist der Zusammenhang wichtig. Letztlich ist heute „alles normal“, nur verstehen tut es keineR… (Das erwarte ich schon von StudentINNen und Linken!)

Ganz zu schweigen von der politischen Dimension. Pornokonsum wird bald erst ab 18 Jahren erlaubt sein und vorläufig sind Darstellungen wie „Watersports“ und „das was ins Klo gehört“ ebenso schwer strafbar wie die allseits verfolgte Kinderpornografie. Und Unwissen schützt vor Strafe nicht… (Aber das ist wohl wieder so ein „Nebenwiderspruch“.)

Ein „coming out“ ist also auf allen Ebenen und zu allen Zeiten wichtig. Daher sollten wir aufhören, einen „Spezialtag für jugendliche Schwule“ zu zelebrieren, denn heraus kommen wir in allen Lebensaltern. Ausserdem würde die – zwar politisch korrekte – Trennung zwischen jungen und erwachsenen und älteren Schwulen aufgehoben und die Angst aller voreinander würde gebannt.  (Die öffentliche Vorstellung von den Jungs „und ihren Verführern“!)  Es ist durchsichtig, wieso keineR daran politisch interessiert ist! Aber genauso wie zwischen Hetero- und Homosexualität muss die trennende Ordnung sein, wo kämen wir denn da sonst hin?

Meine Generation hat auf den Forschungen der Heteros aufbauen müssen. Wir waren ihren „Erkenntnissen“ sozusagen ausgeliefert. Inzwischen haben Schwule und Lesben eigene Forschungen und Erkenntnisse zusammengetragen – sie müssten nur noch aufbereitet und in geeigneter Form angeboten werden. Damit nicht jede Generation wieder bei Null anfangen muss!

Ausserdem gibt es heute eine „homosexuelle Sichtweise“ des Ganzen, die ebenso wichtig ist, wie die „weibliche“ Sichtweise zur männlichen.

Dazu braucht es auch reale Kontakte und Vertriebswege, wie zB schwule Buchläden. Denn offenbar interessieren sich Hetero/as nicht so sehr dafür. Da können wir noch so „heterofriendly“ oder „heterolike“ tun, wie wir wollen. Zum Schluss die schon früher gestellte Frage: „Wieso müssen eigentlich immer die Homosexuellen ihr coming out machen? Eigentlich wären es uns die Hetero/as schuldig, ihre Toleranz – jeden Tag – wie selbstverständlich zu „beweisen“. Vor allem und zuerst die Eltern, denn die sind eigentlich an allem „schwuld“! 😛

Peter Thommen-63, Buchhändler, Basel

Der Heterror im Umgang mit Homosexualität besteht darin, homosexuelle Jungs nur halb ernst zu nehmen und sie vor erwachsenen Verführern zu bewahren, sowie die erwachsenen Schwulen von ihnen fernzuhalten mit Drohungen von „Pädophilie“!
Damit lernen wir, den heterosexuellen Missbrauch in der Jugend zu vergessen und uns damit abzufinden, dass wir „nicht alt werden können“!!
Es fehlt uns die Verbindung der Generationen, die für Heterosexuelle selbstverständlich und wichtig ist.  
Daraus werden alle Manöver wie Adoptionsverbot und „Schutz vor Ausbeutung“ bis 18 Jahre verständlich. Aus diesem Grund hat die Schwulenbewegung auch das frühere Schutzalter von 20 auf der Strasse bekämpft! Es hat gerade mal 20 Jahre gehalten…
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Biologie & Homosexualität

Der Titel eines schmalen Bändchens das von Heinz-Jürgen Voss, einem Biologen und Geschlechterforscher im unrast-verlag im Februar dieses Jahres publiziert wurde.

Gedacht für die Diskussion über „Theorie und Anwendung im gesellschaftlichen Kontext“. Ob der Text allerdings die Diskussionen in den Medien und unter Schwulen erreichen wird, bleibt offen. Der „Gesch-lechterdschungel“, der sich in den letzten Jahren eröffnet hat, wird nur noch von wenigen wirklich überblickt!

In der aktuellen Diskussion um die „Homo-Ehe“ ist der Streit um Natur und Natürlichkeit von Männersexualität* erneut heftig entbrannt. Soll jetzt die Homo-Ehe endlich das beweisen und „besetzen“, was die „Normalen“ heftigst für sich alleine verteidigen?

Vorab sei angemerkt, dass erfolgreiche Fortpflanzung weder ihre Natürlichkeit, noch die Unnatürlichkeit alles Anderen zu beweisen imstande ist. Ich glaube es war Dominique Fernandez, der darauf hingewiesen hat, dass Freud ein Zeitgenosse der aufkommenden kapital-intensiven (-istischen) Produktions-weise gewesen war. Voss weist selbst darauf hin, dass in der christlichen Glaubenslehre das menschliche Sexualverhalten völlig auf die „Produktion“ reduziert worden ist, egal ob das nun Lust bereitete, oder mühsame Pflicht war.

Bei Magnus Hirschfeld habe ich den historischen Verlauf der religiösen Verfolgung von Sexualität zwischen Männern nachlesen können. Aber irgendwann hatten die Kirchen die Macht darüber verloren und die Unterdrückung setzte sich im „irdischen“ Bereich fort!

Sexualhistorisch wurden die Bezeichnungen für Abweichendes vor dem Begriff der Normalität „erfunden“. Es gab also ursprünglich nur ein „Sammelsurium“ von Vorstellungen über die Fortpflanzung, woraus die Bezeichnungen für die Beteiligten abgeleitet worden sind.

Jedenfalls waren die sexuellen Betätigungen zwischen Männern lange vorher „da“ – also bevor Begriffe und Bezeichnungen dafür gesucht und dann ange-wendet wurden!

Michel Foucault hatte ein Konzept der „Bio-Politiken“ in seinen Büchern über „Sexualität und Wahrheit“  und „Überwachen und Strafen“ (dt. 1977 und 1983) entwickelt.

„Dieser Beitrag setzt hier an. Er fokussiert Fragen um die „Natürlichkeit“, die „biologische Bedingtheit“ gleichgeschlechtlichen Begehrens und Handelns, behält dabei aber auch die gesellschaftlichen Entwicklungen im Blick. Damit wird nachvollziehbar, wie sich in der bürgerlichen Gesellschaft die Idee durchsetzen konnte, Sexuelles mit physischen und physiologischen Merkmalen theoretisch zu verbinden, Abweichungen von einer Norm zu konstruieren und tilgen zu wollen. Praktische Möglichkeiten zur Auslöschung von Abweichungen wurden zunächst theoretisch erarbeitet und ihre Anwendung ausführlich diskutiert; schliesslich wurden sie – äusserst qualvoll für die betroffenen Menschen – umgesetzt.“ (Voss, Einleitung, S. 5) (1)

Wesentlich in der historischen Diskussion (siehe auch bei Hirschfeld: Die religiöse Verfolgung…) ist der Begriff der „Sodomie“. Hierunter konnte alles verstanden werden, von Ketzerei gegen den Glauben, Politisches, Analverkehr mit Männern und Frauen, bis zum Sex mit Tieren, die als einzige Tat in der deutschen Sprache noch unter diesem Begriff übrig geblieben ist! (im Französischen: sodomiser = Analverkehr) Die Biologie hatte sich also längst „brauchen lassen“, bevor der Begriff „Homosexualität“ überhaupt in der Neuzeit formuliert worden ist.

„Geistesgeschichtlich wird die Renaissance (ab dem 15. Jh.) als Ausgangspunkt der europäischen Moderne gesehen. In dieser Zeit sind auch die Anfänge der modernen Kolonialismus und des Rassismus zu verorten. Ökonomisch gilt die Moderne ab der Industrialisierung seit Mitte des 18. Jh. und der damit verbundenen dominanten Verbreitung kapitalistischer Produktionsverhältnisse als durchgesetzt. Politisch setzte sich die Moderne – die Herrschaft der Bürgerlichen in der Gesellschaft – Ende des 18. Jh. mit der französischen Revolution und schliesslich mit der Herausbildung von Natio-nalstaaten im 19. Jh. durch.“ (Voss, S. 7)

„Diese Eckdaten im Blick zu haben ist bedeutsam, da die Konstituierung des „Homosexuellen“, die schliesslich insbesondere über einen biologischen und medizinischen Diskurs erfolgte, nicht von den ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ablösbar ist.“ (Voss, S. 7)

Ursprünglich wurden „Handlungen“ von Individuen – also unter Männern – verboten! Noch genauer, von Männern, die aus den Vorstellungen der Gesellschaft und ihren „Nominierten“ heraus-„gefallen“ waren und erst mit Strafe und Unterweisung „korrektioniert“ werden mussten. Grob gesagt geht es in der Bibel niemals um „Homosexuelle“ – und historisch sehr lange darum, dass quasi Normale einzelne Handlungen begangen hatten, von denen sie dauerhaft abzubringen waren. (2)

„Die wirtschaftlichen Veränderungen bildeten die Grundlage für die Herausbildung erster Ansätze von „Subkulturen“ gleichgeschlechtlich Begehrender, die Verfolgungswellen gegenüber den Sodomiten bildeten einen weiteren und massiv identitätsstiftenden Hintergrund.“ (Voss, S. 8)

Hier wird es enorm wichtig, darauf hin zu weisen, dass sich allmählich die Handlung Schritt für Schritt auf den Handelnden als Identität übertrug! Subkulturen wie die geschlechtsgetrennten Pissoirs, oder der Park, oder die nach Geschlechtern getrennten Schlafräume (seit vorgeschichtlichen Zeiten!) bildeten einen Raum, in welchem auch Männer bewegten und gleichgeschlechtlich aktiv waren, deren Identität nicht eine „sodomitische“ oder „homosexuelle“ war, oder gar eine daraus wurde!

Geschätzte dreissig Prozent der User auf einer schwulen Plattform im Internet definieren sich selbst nicht als „gay“. Und trotzdem wird die Plattform als „schwule Plattform“ definiert. Nicht nur das „Beichtgeheimnis“ und das intensive Sprechen über Handlungen formten eine Identität. Auch ein Schweigen kann Identität stiften, oder eine solche gerade verhindern. Damit bleibt dann ein Mann ein „Mann“ – obwohl er sich auch „unmännlich“ betätigt…

Vor allem in Bezug auf „Biologie und Homosexualität“ sollte klar(er) werden, dass es dabei immer um „alle“ Männer geht, nicht nur um die „spezifizierten“. Schliesslich haben alle Männer eine Prostata und nicht nur „die Homosexuellen“!

Während also im Bereich des Kirchenrechts und bis zur Moderne keine „handlungsadäquate“ Identität existierte, „änderte sich das mit der Moderne, eng verknüpft mit der Entwicklung kapitalistischer gesellschaftlicher Verhältnisse und moderner Staatlichkeit…“ (Voss, S. 10.)

Ich kann mich erinnern, im Strafgesetzbuch des Kantons Basel-Stadt (also vor 1942) gelesen zu haben, dass die gelegentliche Prostitution als „Abhalten von Schule und Arbeit“ mit einer Busse bestraft worden ist – egal welches Geschlecht die Person hatte.

„Im Lauf des 19. Jh. änderten sich auch die Strafsysteme und man ging von Körperstrafen ab – und auch das ist relevant für die Etablierung klarer Identitäten und die zunehmende Bedeutung der Medizin hierbei.“ (Voss, S. 11)

„Die Medizin wurde bezüglich Homosexualität zur klassifizierenden und entscheidenden Instanz. Einer der Ersten, die sich dazu auf den (natur-) wissenschaftlichen Stand der Zeit beriefen und diesen weiter entwickelten, war Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895).“ (Voss, S. 11) (3)

Während in der Zeit nach Ulrichs die allgemeinen medizinischen, biologischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse und Forschungen immer breiter werden, engt sich der Blick von Voss auf die Homosexualität als solche ein.

Nach den Hinweisen auf die Kolonialpolitiken und den sich entwickelnden Rassismus, weist er nun auf die Eugenik und die Sichtweise der sogenannten „Degenerationserscheinungen“ hin. Voss stellt die Theorien chronologisch vor. Erst die konstitutionelle Bisexualität, dann die Rolle des Keimdrüsengewebes (Hoden und Eierstöcke) und seine Absonderungen bis zu den Hormonen. Auch die operationellen und medizinischen Versuche auf diesem Gebiet werden aufgeführt!

Als verhängnisvoll erweist sich historisch der Drang nach Beschreibung von Personen, von denen mann-männliche sexuelle Aktionen bekannt geworden sind. Was ich hier bereits „Sexismus“ nennen muss, entspricht völlig den Entwicklungslinien von Rassismus und „Verbrechensforschung“ (Physiognomik, nach Lavater und Huter). Mann glaubte an äussere „Erken-nungszeichen“ und begann äussere Handlungen mit inneren „Orientierungen“ gleich zu setzen.

Später ortete die „Wissenschaft“ die sexuelle Orientierung in Hormonen und im Gehirn. Günter Dörner hatte in der DDR mit seinen endokrinologischen Expe-rimenten umstrittene Ergebnisse publiziert.

Bei der Entwicklung der Genforschung stellte sich erneut die Frage nach der Vererbung und Natürlichkeit „sexueller Handlungen“. Voss lässt sich auf die evolutionsbiologische Diskussion ein: „ … dabei werden dann ausgewählt nur diejenigen Ergebnisse der Zwillingsstudien und der Genetik präsentiert, die die These der Erblichkeit zumindest teilweise stützen. Die Studienergebnisse, die der These widersprechen, werden in der Regel gar nicht angeführt.“ (Voss, S. 62)

Emanzipatorisches Streiten: „Deutlich wird auf jeden Fall, dass die Selbstermächtigung der Lesben und Schwulen bei Bezug auf biologisch-medizinische Wissenschaften beschränkt ist… Ob die in zahlreichen Ländern zu beobachtenden neueren gesellschaftlichen Entwicklungen, die eine stärkere soziale Anerkennung von Homosexualität versprechen, zu grundlegenden Änderungen führen, bleibt abzuwarten.“ (Voss, S. 67)

Heinz-Jürgen Voss fügt am Schluss noch eine zusammenfassende Darstellung der zentralen Studien zur Biologie männlicher und weiblicher Homosexualität an, sowie eine Liste der zitierten und der von ihm empfohlenen Literatur.

Ich denke, dass die Einschätzung „homosexueller Handlungen“ von „nicht homosexuellen Männern“ noch ein wichtiger Schritt sein wird, der die Diskussion um „Natürlichkeit“ beruhigen könnte. Denn schliesslich dreht sich die Forschung auch nicht nur um die „Minderheit der notorischen“ Heterosexuellen! Inzwischen werden die Männer weiterhin denken, dass es viele Möglichkeiten der sexuellen Entspannung gibt – auch mit anderen Männern! 🙂

Peter Thommen_63

 

Heinz Jürgen Voss: Biologie & Homosexualität. Theorie und Anwendung im gesellschaftlichen Kontext, unrast Verlag 2013, 88 S.  ca. CHF 9.80

 

(1) Siehe auch meinen Text über Braunschweig: Das Dritte Geschlecht, PDF, S. 8!

(2) Puff, Helmut: „Und solt man alle die so das tuend verbrennen, es bliben nicht funffzig mannen in Basel… (Forum HS+Literatur, Nr. 10, S. 83-92)

(3) Für die Schweiz sei auf Heinrich Hössli (1784-1864) hingewiesen!

*Die Diskussion im Frauenbereich muss redlicherweise von diesen geführt werden!

 

P.S. Über die „Medizinialisierung“ homosexueller Handlungen in der Schweiz muss ich auf die Publikation „Männergeschichten“ (Buchverlag der Basler Zeitung, 1988) verweisen:

Rolf Trechsel: Die Medizinalisierung der Homosexualität, S. 204-206

Sigi Friedli: Psychiatrie und Homosexualität, der Fall Ernst Rüdin (Friedmatt, Basel), S. 207-212)

Rolf Trechsel: Die Kastration Schwuler in der Schweiz, S. 213-25

Ein im Wesentlichen noch unaufgearbeitetes Kapitel!

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Nordafrikanisches Liebesleben im Wandel

Shereen el Feki hat ein aktuelles Buch mit sehr viel historischen, ethnologischen und sexuellen Informationen geschrieben, das ich mit Spannung gelesen habe.

Die Sexualkultur unter Moslems ist darin sehr anschaulich beschrieben, sowie die Doppelmoral, die sich aus Religion und Wirklichkeit ergibt. Neben der Situation von Frauen beschreibt sie auch die desolate Wirklichkeit von Männern. Unter der heute gültigen Kultur leiden beide Geschlechter, weil sie eine Ideologie für Gläubige (mönchisch) und keine mit Bezug auf Alltagserfahrungen mehr ist. Aberglaube, Unwissen und „vorauseilender Gehorsam“ sind wichtig! (Also Handlungen, die etwas Positives durch „Gehorsam“ in Aussicht stellen. Ein typisches Familienritual, wie ich meine!)

Obwohl der Islam und sein Prophet ihren Gläubigen sexuelle Freuden gönnt, lassen die sich aber nicht so einfach umsetzen und geniessen! Daher wogt ein stetiger Streit mit sogenannten religiösen Autoritäten, die angeblich wissen wollen, was „halal“ (gottgefällig) und was „haram“ (sündhaft) sei…

Mich interessieren solche Kulturschilderungen, weil sie das Grab unserer eigenen Vergangenheit öffnen und Erinnerungs- und Rekonstruktionshilfen für unsere Kultur sind, von denen die meisten nichts mehr wissen…

Bis heute sind die Bedürfnisse von Frauen und Männern sehr verschieden und müssen erst „koordiniert“ und eingeübt werden. Von „natürlicher Ergänzung“ kann keine Rede sein – abgesehen von der Penetration zur Fortpflanzung. Heterosexualität ist ein Konstrukt. Im Zusammenleben wie im Sexualleben. Rituale haben das menschliche Gespräch historisch zunehmend ersetzt.

Als Schwuler erkenne ich in den Schilderungen Fekis auch die verschütteten homosexuellen/homosozialen Elemente aller Männer wieder, an denen sie von Müttern, Gesellschaft, Freundinnen und Ehefrauen vorbeigemogelt werden.

Mir fällt bei den Gebräuchen der Moslems auch auf, dass es darum geht, den Sexualorganen mit Beschneidungen Gewalt anzutun, um sie früh zu zähmen. Aber um als erwachsen gelten und erwachsenen Sex haben zu können, braucht es weitere. (Ähnlich wie mit den religiösen Riten der Taufe/Konfirmation/Ehe) Es geht auch darum, dass vorehelicher Sex unter Kindern oder Jugendlichen „verhindert“ werden soll. Aber wer soll damit vor wem geschützt werden? Die Frauen vor Empfängnis und/oder die Männer vor Homosexualität?

Klar ist mir geworden, dass die Religionen ihre Macht auf Sexualeinschränkungen aufbauen. Dem Kind wird versprochen, es erhalte für den Gehorsam dann später eine Erfüllung im Sex und in der Liebe. Und dem Erwachsenen wird wiederum versprochen, er erhalte gegen seinen Glauben nach dem misslichen Leben, ein ewiges Paradies im Himmel…

In der administrativen und religiösen „Vergewaltigung“ in der Geschichte der Sexualität erkenne ich die heutige Sehnsucht von westlichen Schwulen und Bisexuellen, tatsächlich „entjungfert“ zu werden und von sexuellen Übergriffen zu träumen, letztlich um die Verantwortung dafür nicht übernehmen zu müssen. Nach dem Schmerz wird verlangt, aber nicht nach der Fähigkeit, (da)mit Sex(uell) umzugehen!

Feki Zit

in englisch und deutsch

Das schliesst unsafen Sex, barebacking und das „Schlampe“ spielen ebenfalls mit ein. (Phil Langer nennt das „beschädigte schwule Identität durch Risikoverhalten!“) Dies spielt – wie beim normalen hetero Verhalten unter so vielen Vorschriften, eine wichtige Rolle.

„Zu starke Sexualität“ wird angeblich gebremst und erzeugt bei beiden Geschlechtern offenbar Ängste, die mit Gewalt überwunden werden müssen, was wiederum ein verängstigtes Bedürfnis nach Gewalt erzeugt…

Wobei ich den Eindruck bekomme, dass Frau(en) sich in Kairo wohl um eine weibliche Identität bemühen, aber die Männer z.B. unberücksichtigt bleiben, wenn es um die Einheit mit anderen Männern geht, oder bei der Untersuchung von Spermien auf deren „Fruchtigkeit“. Traditionell wird alles über die Frau abgehandelt, sie muss sich rechtfertigen.

Wichtig und interessant ist die Feststellung El Fekis, dass sexuelle Übergriffe und Missbrauch keine sexuelle Identität verändern oder gar eine HS erst herstellen können, (Pädophilie-Vorwurf) wie das bei uns und offenbar auch dort geglaubt werden will.

Manchmal erscheint mir die Situation der ägyptischen Frauen wie diejenige von verklemmten und versteckten Schwulen. Die Gesundheits-Politik ist ähnlich wie die unserer Schwulenbewegungen anfangs des letzten Jahrhunderts.

Feki hat ein eigenes Kapitel über gleichgeschlechtlichen Sex und über Transgender geschrieben. Auch über die AktivistINNen und ihre Vorstellungen, wie sich diese auch von unseren westlichen Vorstellungen unterscheiden. Ähnlich wie früher in der Schwulenbewegung bei uns, will sozusagen keineR eine Homo-Ehe und deren Rechte einfordern, sondern überhaupt mal ein Recht auf Privatleben einklagen – nämlich für ALLE. Damit ist der Bezug zur Alle umfassenden Politik in der Gesellschaft so nahe wie er mal bei der Schwulenbewegung war.

Ein interessantes Buch für die Diskussion um die Homo-Ehe, für die Arbeit mit MigrantINNen, über Geschlechtsrollen, über Bisexualität, über Parallelsexualitäten (mit m und w), über Rollenverhalten. Generell wichtig für die Gender-Diskussionen!

Es ist anspruchsvoll, sich durch die dargestellte Frauensexualitätsgeschichten durchzuarbeiten, was nicht jedem zusagen mag. Aber wir sind nun mal alle von Frauen geboren und hängen da mit drin („schwul = weiblich“) – auch wenn wir keinen Sex mit ihnen haben!

Shereen el Feki: Sex und die Zitadelle, Hanser, 2013 (orig. engl. – jetzt auch frz.)

Es ist kein „wissenschaftliches“ Buch, sondern sehr leicht verständlich geschrieben und spannend zu lesen! Für viele aber dennoch eine Herausforderung!  Peter Thommen_63

Aktualisiert 11.6.2013

Shereen El Feki: Wie man eine Epidemie unter schlechten Gesetzen bekämpft! HIV

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bis zum eigenen Begehren

Oder: „Wer könnten wir sein, wenn wir anders sind als die Norm?“ 

Carolin Emcke hat 2012 ein vielbeachtetes und sehr persönliches Buch darüber, „wie wir begehren“ veröffentlicht. Wie immer finden Bücher von lesbisch begehrenden Frauen eine „andere“ Beachtung im heterosexuellen Publikum, als solche üblicher Autorinnen. Besonders dann, wenn sie die Partnerin einer bekannten Frau ist…

„Von außen betrachtet bin ich homosexuell. Im öffentlichen Diskurs, wenn dieses Begehren verortet werden soll, bin ich »lesbisch«, »schwul«, »eine Lesbe«, das ist dann schon ein Substantiv. Mal abgesehen davon, dass ich mich selbst so nie bezeichnen würde, ist, wie ich begehre, auf einmal keine Handlung mehr, lebendig, dynamisch, wandelbar. Wie ich begehre, das ist dann eine Identität“ (zeitmagazin, 15.3.12)

Emckes Buch wurde in den wichtigen Medien diskutiert und ich gebe hier ein paar Links zur ergänzenden und vorausgehenden Information: Verena Lueken, FAZ 4.3.2012, bei „perlentaucher“ eine Übersicht über verschiedene Ein-schätzungen, Kim Kindermann im deutschlandfunk, 15.3.2012, Daniel Schreiber in Cicero 18.3.2012, Christina Bauer (Fachärztin für Psycho-therapie), Jan Feddersen in der taz vom 10.3.2012, Ellen Kositza in Sezession, 20.3.2012,

SRF2-Reflexe (Audio), 3.4.2012: „Es ist eine sensible Erzählung über ihr Erwachsenwerden, über die Entdeckung ihrer Homosexualität und ihre Liebe zur klassischen Musik. Emcke bettet das ein in Überlegungen über das Recht auf Anderssein.“

Ich kann dieses Buch einer „frauenbegehrenden Frau“ als „Schwuler“ lesen. Damit meine ich meinen ganz persönlichen Erfahrungsschatz. Mein Blick richtet sich auf ihre Darstellung von homosexuellen Männern in dem Buch und ihr Verhältnis zu ihnen. Alles nach dem Motto: Wer sich exponiert, der/die wird kritisiert. Dies zeigt sich auch in der „hetera-sexuellen“ Sicht von Ellen Kositza (> oben)!

„Es ist ein Balanceakt zwischen der Forderung nach Anerkennung als Gleiche und der nach Anerkennung als Andere und der Erwartung, dass andere erkennen können, wann das eine und wann das andere angemessen ist, wann es sich richtig anfühlt, als schwul oder als weiblich oder als muslimisch wahrgenommen zu werden, und wann es sich verletzend anfühlt.“ ( Emcke, zeitmagazin, 15.3.12)

Mit dem obigen Zitat ist gleichzeitig auch die weibliche Sichtweise angegeben. Eine Sichtweise, die „gleitend“ ist und für mich irgendwie typisch für eine Erziehung zu weiblichem Status in einer heTerrorsexuellen Gesellschaft. Nichts ist sicher, alles offen und ein „Dank fürs Begehrtwerden durch den Mann“ nicht selbstverständlich. Ich spiele hier auf etwas an, was mir im Gespräch mit bisexuellen Männern aufgefallen ist. Männer untereinander bedanken sich in der Regel nicht für die Befriedigung durch den Anderen. Ich habe hier gegenüber bisexuellen Männern immer irgendeine unsichtbare Wand gespürt, die mich letztlich von ihrem Begehren trennte, obwohl wir uns im Sex sehr nahe waren.

Ihre Freundinnen wollen als Dank den Beweis einer Liebe, die frau Mutter ihnen wohl schon in Aussicht gestellt hat. Oder als „Sichersein“, den Bedürfnissen eines Mannes entsprochen zu haben. Frauen ficken mit der Liebe und erwarten das auch vom Mann. Dies klingt in der Rezension von Ellen Kositza irgendwie an. Wahrscheinlich geht es schwulen Männern ähnlich!? Ich habe dazu noch ein wunderbares Zitat von Martin Dannecker gefunden: …dass die Frau vor allem einen Sexualkörper, der Mann hingegen vor allem ein Sexualorgan, aber keinen sexuellen Körper hat.“ (1)

Die heterosexuelle Sichtweise von Männersex und schwulem Sex findet sich in Spuren auch bei Emckes Diskurs um die Missbrauchsdiskussion. Sie greift alte Klischees von Pädophilen auf, die Knaben missbrauchen. Und während sie kindlich-unschuldig mit ihren heterosexuellen Jugenderfahrungen umgeht, ignoriert sie die weibliche Dimension dieses Problems und handelt es politisch korrekt nur an den Männern ab. Andererseits schreibt sie wieder Sätze wie: „Es hätte ja bedeuten können, explizit zu machen, dass Jugendliche als Objekte der Lust gelten konnten, dass unsere Körper begehrenswert sein könnten. Dass wir selbst hätten begehren können, das war gänzlich unvorstellbar.

In einer Welt, in der Sexualität tabuisiert wird, in der die Lust als ambivalente, unheimliche Leerstelle firmiert, kann über Formen der Lust nicht verhandelt werden. (2)

Nur leise klingt zwischen den Zeilen an, dass dabei unwichtig ist, ob das alles in einer „reformpädagogischen“ Odenwaldschule, oder in einem strengen katholischen Internat abgeht. Totschweigen verhindert durch den verunmöglichten Dialog auch die verbale Distanzsuche zwischen den Mächtigen und den Ohnmächtigen, um zu verhandeln. Das hat Folgen!

„In einer sexuell repressiven Welt, ob muslimisch oder katholisch, in der das Entdecken der eigenen Lust unterbunden, die Pubertät abgebrochen oder in ewiger Zeitschleife gehalten wird, verbleiben erwachsene Männer in einem infantilisierten Zustand des Vor-Begehrens, gehüllt in einen Kokon der anerzogenen Scham.“

Hier klingt für mich auch die traditionelle Rolle der Frau an, die – ausschliesslich auf den Mann vertröstet, dann meist auch gleich den „Täter“ an ihrem Körper hat. Zwischen Frauen scheint das nicht stattzufinden, aber wiederum zwischen Knaben und Männern ist es „zwingend“. Sie beschreibt das als „symmetrischen“ und „asymmetrischen“ Gegensatz.

Des … „ängstlich-ahnungslosen Sehnens nach Anerkennung von dem verehrten Lehrer. Hier leugnen die Täter die eigenen Taten, weil sie das Macht- und Gewaltverhältnis leugnen. Den asymmetrischen Missbrauch, die Vergewaltigung verklären sie so zu symmetrischem Begehren.“

In der männlichen Sozialisation wurde anstelle des Dialogs oder einer genitalen Lust (bei der hetero-korrekt die Penetration als Gefahr in der Fantasie aufscheint) die Rauferei und die gewaltsame Annäherung an den gleichgeschlechtlichen Körper entwickelt und bis heute als „normal“ empfunden. (Mit Recht erwähnt Judith Butler in einem Text, dass das Tabu der Homosexualität in der Familie noch vor dem Inzesttabu etabliert wird.)

Seltsamerweise war über den Roman und Film von Christa Winsloe, „Mädchen in Uniform“ seit ihrem Erscheinen niemals von „sexuellem Missbrauch“ die Rede. Unter Mädchen gibt es keinen Penis und vor allem nur „eine Internatsschülerin, die für eine Lehrerin starke Gefühle entwickelt“. Mann und Frau lasse sich das auf der Zunge zergehen! Frau verzeihe mir den Ausdruck: Frauen ficken halt mit Gefühlen, was bei Entzug aber genauso schmerzhaft sein kann…

Ich möchte dieses Thema mit einem Hinweis auf das Gedicht „Erlkönig“ abschliessen, in dem es neu-psychoanalytisch um sexuellen Missbrauch eines Knaben durch einen Mann geht. Hingegen in dem Märchen „Hänsel und Gretel“ kann Frau nichts davon erkennen, obwohl die Hexe nicht an dem Finger von Hänsel, sondern an seinem Penis interessiert ist, ob der schon „richtig gross“ werden kann!

Carolin Emcke liebt es, Un-Eindeutigkeiten zu beschreiben und zu umschreiben. So wie sie selbst sich schon immer verstanden hat. Gender. Rumbalgen mit Jungs und alles offen lassen. Gewertet und eingeordnet wird am Ende – und nie gemeinsam…

Interessant sind ihre Beschreibungen aus Gaza, wo sie von Einheimischen begleitet wird. Sie erlebt zunächst die Begegnung mit Frauen, die traditionell gekleidet, sie mit ihren kurzen Haaren und Hosen, nicht als „Ihresgleiche“ erkennen können. Noch interessanter ist ihre Begegnung mit einen Mann, den sie wiederum nicht als „Hetero“ erkennen kann!

„Und da stand er nun vor uns, und wir schauten fassungslos auf diese Erscheinung, als sei er eine Fata Morgana, die sich gleich in gestaltloses Flirren auflösen würde: Ibrahim trug eine Jeans, einen strahlend weissen, puffigen Daunen-Anorak und eine überdimensionale Sonnenbrille, die George Michael bei seinen Konzerten in den Achtzigern hätte tragen können.“

„Schon bei den ersten Sätzen zur Begrüssung … war klar, was nicht klar sein durfte: Ibrahim war schwul. Ein Schwuler in Gaza.“

Für sie war er ein Gender, der nach europäischen Massstäben ein Schwuler war, während in Gaza natürlich kein Mensch für so einen wie ihn eine Bezeichnung hatte. Und der langsame Annäherungsprozess zu ihm als Dolmetscher verharrte in einer Art sexlosem Raum, wie es auch „territoriumslose“ Räume auf Flughäfen für Durchreisende gibt.

„Vielleicht wusste Ibrahim nicht, wie er wirkte? Woher sollte er das auch wissen? Aber musste er nicht zumindest bemerken, dass er anders aussah, sich anders gab als alle anderen jungen Männer um ihn herum? Wie konnte das sein? Wusste er nicht, wie schwul er sich gab? War er überhaupt schwul?“

Das erinnert mich an die frühen Beschreibungen orientalischer und arabischer Händler, die sich mit allerhand Tand schmückten, farbig kleideten und sich mit duftendem Parfum versorgten…

„War das Tabu zum Opfer seiner selbst geworden: Wurde Homosexualität derart unterdrückt, dass Hamas es nicht einmal erkannte, wenn ein Schwuler vor ihnen stand? Wenn über Homosexualität nicht gesprochen werden darf, dann darf auch nicht gesprochen werden, was Homosexualität ausmacht.“ (3)

Nicht einmal auf eine beiläufige aber direkte Frage nach Homosexuellen konnte der „Mann“ antworten, offenbar gab es keine entsprechende Identität oder Gender für ihn. Sehr wahrscheinlich gab es für ihn einen anderen Begriff, eine andere Auffassung, eine andere Sicht. Als Junge nahm ich zwar typische Homosexuelle zur Kenntnis, aber da ich ja nicht so erschien wie dieselben, empfand ich mich auch nicht als schwul. Ich bin zwar in der Schule und auf dem Weg gemobbt worden, aber keineR sagte je etwas über das Warum! Dabei sagte mir ein Schülerkollege später, er hätte schon immer gewusst, dass ich schwul sei.

Nach einem Angriff der Israelis auf Gaza, reiste Emcke wieder ein und begegnete erneut diesem Ibrahim. Und es war, als sei er so geschockt worden, als er ihr gegenüber erklärte, dass er schwul sei. (Leider gibt sie das Original-Wort nicht an.) Er hätte es bisher noch niemandem gesagt. Die Geschichte von Ibrahim geht in dem Buch weiter, bis zu seiner Flucht nach Europa. Die Scham von zuhause verwandelte sich: „er war froh, sich seiner Homosexualität nicht mehr schämen zu müssen, aber musste sie deswegen gleich schamlos sein?

Was mich an der Geschichte mit Ibrahim störte, ja ärgerte, war das Schweigen über die Gründe der Diskriminierung männlicher Homosexualität in Gaza. Auch wird die historische Entwicklung der Diskriminierung, erst von Männern, dann auch von Frauen völlig ignoriert. Denn Frauen waren traditionellerweise kein Teil des öffentlichen Lebensraumes! Und da Emcke sich vor allem als „queer“ versteht, musste sie auch die Geschichte mit dem § 175 in der BRD, der sich auf Männer beschränkte erst nachlesen. Die Tatsache, worauf die sozial-politische Kriminalisierung der Männer wirklich beruht, erfahren wir von ihr auf S.116, fast in der Mitte des Buches. Und welcheR LeserIN findet da noch die Verbindung zum vorher erwähnten sexuellen Missbrauch?

„Was an den männlichen biologischen Verschiedenheiten wird denn in den Begegnungsformen so bedrohlich? Analverkehr? Das ist ja keine sexuelle Praxis, die ausschliesslich Schwulen vorbehalten ist, das kann auch Frauen Lust bereiten. Oder ist es die misogyne Angst vor Penetration, die Vorstellung, dass Männer nicht nur gefickt werden können, sondern dass Männer gefickt und dadurch erregt werden könnten, die als staatsgefährdend gilt?“

Die Begehrensformen werden nicht weiter ausgeführt. Weiter hinten findet sich dann ein Satz, der mich wieder ärgert: (wie die Fragezeichen im vorhergehenden Zitat) „Homosexuelle Frauen begehren Frauen, weil sie begehren – nicht, weil sie nicht begehren.“ (S. 127) Er wird zur zentralen Aussage erst dann, wenn er wie folgt lauten würde: Menschen begehren das gleiche Geschlecht, weil sie Identität begehren, nicht, weil sie nicht begehren! (P.Thommen) (4) Emcke formuliert das so: „Aber mit Frauen ist es einfach aufregender.“ (S. 142) Und sie hat auch eine Erklärung für sich formuliert.

In einem Kapitel über Prostitution und Huren formuliert sie ihr Entsetzen über die heterosexuellen Verhältnisse und wie sie sich mit den Nutten identifiziert. (5) Frauen verstehen aber nicht den Unterschied zwischen der heterosexuellen Prostitution und der homosexuellen! Diese bietet nicht das gleiche wie in der Ehe, sondern etwas „anderes“ und sie findet nicht unter den gleichen Bedingungen statt.

S. 192 sortiert sie ihre frühen Erfahrungen neu: „Ich wollte andere Mädchen oder Frauen lieben dürfen. Und dieses Verlangen, ohne dass ich das darin enthaltene Lustvolle erkannt hätte, dieses tiefe Verlangen taucht auch auf, immer wieder, bei verschiedenen, meist älteren Frauen, nur verband ich es nie mit der Vorstellung von Homosexualität. Ich verband es nicht einmal bewusst mit „Liebe“.

Diese Definition gilt es zu respektieren, sie ist authentisch und glaubhaft. Aber es gibt auch noch schwule Sichtweisen, Erlebnisweisen, die zwar auch „gleichgeschlechtlich“ konnotiert sind, aber viel „sexueller“ ausgeprägt. Und wenn ich sexuell meine, dann bitte nicht nur „ficken“! Und hier verweise ich nochmals auf Martin Danneckers Zitat!  Peter Thommen_63, Buchhändler

P.S. Das Buch gibt Anlass zu weiteren Diskussionen dieser Art. Es enthält weitere Erzähl- und Themen-Stränge.

Carolin Emcke: Wie wir begehren, Fischer 2012, 256 S.

1) Die Geschlechtsspezifische Durchsetzung des Genitalprimats findet (nach Freud) „ihren Niederschlag auch darin .., dass die Frau vor allem einen Sexualkörper, der Mann hingegen vor allem ein Sexualorgan, aber keinen sexuellen Körper hat.“

(Indem das Sexualziel darin besteht, mit dem Penis in die Vagina einzudringen, was – wie Dannecker daraus folgert – den Penis zu seinem einzigen Sexual-organ macht.)

„Historisch betrachtet erscheint das durchaus zutreffend. Ein ganzes Bündel von Phänomenen deutet darauf hin, dass heterosexuelle Männer bis vor kurzem keinen sexuellen Körper hatten, jedenfalls nicht in dem Sinn, wie er Frauen und homosexuellen Männern eigen ist. Das will sagen, dass sich der Körper der heterosexuellen Männer der Sexualisierung entzog. Ein sexualisierbarer Körper erschien lange gleichbedeutend mit einem Frauenkörper oder einem „Schwulenkörper“ … Martin Dannecker: Männliche und weibliche Sexualität, in: Quindeau/Sigusch: Freud und das Sexuelle, S. 87)

2) Es gibt Knaben, die haben NICHT kein Begehren, sondern eben ein Begehren nach Männern, auch neben der Bereitschaft für Frauen! Aber das ist für Frau Emcke wiederum so unwichtig, wie ihr lesbisches Begehren es für die Heterokultur ist. Und es gibt nicht nur Männer, die Knaben missbrauchen, sondern auch Knaben, die Männer ficken wollen! Doch das trauen sich viele Schwule nicht öffentlich auszusprechen! Damit nimmt man/Frau uns Männern aber einfach einen Teil unserer sexuellen Biografie weg! Kriminalisiert und entsorgt in der Schublade „Missbrauch“!

3) Sinngemäss kann davon geschrieben werden, dass, wenn über männliches Begehren, vor allem nicht über dasjenige des Jüngeren zum Älteren, nicht gesprochen werden darf, dann darf auch nicht darüber gesprochen werden, was diese Liebe (Gerontophilie) ausmacht! Praktischerweise wird sie im Wort „Pädophilie“ gefasst und generell als Missbrauch entsorgt.

4) Und nicht erst politisch-korrekt ab 16, oder gar 18 Jahren! Ich wiederhole, es geht hier ums Begehren und nicht um „strafbare Handlungen“!

5) S. 145-153

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