Oder: „Wer könnten wir sein, wenn wir anders sind als die Norm?“
Carolin Emcke hat 2012 ein vielbeachtetes und sehr persönliches Buch darüber, „wie wir begehren“ veröffentlicht. Wie immer finden Bücher von lesbisch begehrenden Frauen eine „andere“ Beachtung im heterosexuellen Publikum, als solche üblicher Autorinnen. Besonders dann, wenn sie die Partnerin einer bekannten Frau ist…
„Von außen betrachtet bin ich homosexuell. Im öffentlichen Diskurs, wenn dieses Begehren verortet werden soll, bin ich »lesbisch«, »schwul«, »eine Lesbe«, das ist dann schon ein Substantiv. Mal abgesehen davon, dass ich mich selbst so nie bezeichnen würde, ist, wie ich begehre, auf einmal keine Handlung mehr, lebendig, dynamisch, wandelbar. Wie ich begehre, das ist dann eine Identität“ (zeitmagazin, 15.3.12)
Emckes Buch wurde in den wichtigen Medien diskutiert und ich gebe hier ein paar Links zur ergänzenden und vorausgehenden Information: Verena Lueken, FAZ 4.3.2012, bei „perlentaucher“ eine Übersicht über verschiedene Ein-schätzungen, Kim Kindermann im deutschlandfunk, 15.3.2012, Daniel Schreiber in Cicero 18.3.2012, Christina Bauer (Fachärztin für Psycho-therapie), Jan Feddersen in der taz vom 10.3.2012, Ellen Kositza in Sezession, 20.3.2012,
SRF2-Reflexe (Audio), 3.4.2012: „Es ist eine sensible Erzählung über ihr Erwachsenwerden, über die Entdeckung ihrer Homosexualität und ihre Liebe zur klassischen Musik. Emcke bettet das ein in Überlegungen über das Recht auf Anderssein.“
Ich kann dieses Buch einer „frauenbegehrenden Frau“ als „Schwuler“ lesen. Damit meine ich meinen ganz persönlichen Erfahrungsschatz. Mein Blick richtet sich auf ihre Darstellung von homosexuellen Männern in dem Buch und ihr Verhältnis zu ihnen. Alles nach dem Motto: Wer sich exponiert, der/die wird kritisiert. Dies zeigt sich auch in der „hetera-sexuellen“ Sicht von Ellen Kositza (> oben)!
„Es ist ein Balanceakt zwischen der Forderung nach Anerkennung als Gleiche und der nach Anerkennung als Andere und der Erwartung, dass andere erkennen können, wann das eine und wann das andere angemessen ist, wann es sich richtig anfühlt, als schwul oder als weiblich oder als muslimisch wahrgenommen zu werden, und wann es sich verletzend anfühlt.“ ( Emcke, zeitmagazin, 15.3.12)
Mit dem obigen Zitat ist gleichzeitig auch die weibliche Sichtweise angegeben. Eine Sichtweise, die „gleitend“ ist und für mich irgendwie typisch für eine Erziehung zu weiblichem Status in einer heTerrorsexuellen Gesellschaft. Nichts ist sicher, alles offen und ein „Dank fürs Begehrtwerden durch den Mann“ nicht selbstverständlich. Ich spiele hier auf etwas an, was mir im Gespräch mit bisexuellen Männern aufgefallen ist. Männer untereinander bedanken sich in der Regel nicht für die Befriedigung durch den Anderen. Ich habe hier gegenüber bisexuellen Männern immer irgendeine unsichtbare Wand gespürt, die mich letztlich von ihrem Begehren trennte, obwohl wir uns im Sex sehr nahe waren.
Ihre Freundinnen wollen als Dank den Beweis einer Liebe, die frau Mutter ihnen wohl schon in Aussicht gestellt hat. Oder als „Sichersein“, den Bedürfnissen eines Mannes entsprochen zu haben. Frauen ficken mit der Liebe und erwarten das auch vom Mann. Dies klingt in der Rezension von Ellen Kositza irgendwie an. Wahrscheinlich geht es schwulen Männern ähnlich!? Ich habe dazu noch ein wunderbares Zitat von Martin Dannecker gefunden: …dass die Frau vor allem einen Sexualkörper, der Mann hingegen vor allem ein Sexualorgan, aber keinen sexuellen Körper hat.“ (1)
Die heterosexuelle Sichtweise von Männersex und schwulem Sex findet sich in Spuren auch bei Emckes Diskurs um die Missbrauchsdiskussion. Sie greift alte Klischees von Pädophilen auf, die Knaben missbrauchen. Und während sie kindlich-unschuldig mit ihren heterosexuellen Jugenderfahrungen umgeht, ignoriert sie die weibliche Dimension dieses Problems und handelt es politisch korrekt nur an den Männern ab. Andererseits schreibt sie wieder Sätze wie: „Es hätte ja bedeuten können, explizit zu machen, dass Jugendliche als Objekte der Lust gelten konnten, dass unsere Körper begehrenswert sein könnten. Dass wir selbst hätten begehren können, das war gänzlich unvorstellbar.
In einer Welt, in der Sexualität tabuisiert wird, in der die Lust als ambivalente, unheimliche Leerstelle firmiert, kann über Formen der Lust nicht verhandelt werden. (2)
Nur leise klingt zwischen den Zeilen an, dass dabei unwichtig ist, ob das alles in einer „reformpädagogischen“ Odenwaldschule, oder in einem strengen katholischen Internat abgeht. Totschweigen verhindert durch den verunmöglichten Dialog auch die verbale Distanzsuche zwischen den Mächtigen und den Ohnmächtigen, um zu verhandeln. Das hat Folgen!
„In einer sexuell repressiven Welt, ob muslimisch oder katholisch, in der das Entdecken der eigenen Lust unterbunden, die Pubertät abgebrochen oder in ewiger Zeitschleife gehalten wird, verbleiben erwachsene Männer in einem infantilisierten Zustand des Vor-Begehrens, gehüllt in einen Kokon der anerzogenen Scham.“
Hier klingt für mich auch die traditionelle Rolle der Frau an, die – ausschliesslich auf den Mann vertröstet, dann meist auch gleich den „Täter“ an ihrem Körper hat. Zwischen Frauen scheint das nicht stattzufinden, aber wiederum zwischen Knaben und Männern ist es „zwingend“. Sie beschreibt das als „symmetrischen“ und „asymmetrischen“ Gegensatz.
Des … „ängstlich-ahnungslosen Sehnens nach Anerkennung von dem verehrten Lehrer. Hier leugnen die Täter die eigenen Taten, weil sie das Macht- und Gewaltverhältnis leugnen. Den asymmetrischen Missbrauch, die Vergewaltigung verklären sie so zu symmetrischem Begehren.“
In der männlichen Sozialisation wurde anstelle des Dialogs oder einer genitalen Lust (bei der hetero-korrekt die Penetration als Gefahr in der Fantasie aufscheint) die Rauferei und die gewaltsame Annäherung an den gleichgeschlechtlichen Körper entwickelt und bis heute als „normal“ empfunden. (Mit Recht erwähnt Judith Butler in einem Text, dass das Tabu der Homosexualität in der Familie noch vor dem Inzesttabu etabliert wird.)
Seltsamerweise war über den Roman und Film von Christa Winsloe, „Mädchen in Uniform“ seit ihrem Erscheinen niemals von „sexuellem Missbrauch“ die Rede. Unter Mädchen gibt es keinen Penis und vor allem nur „eine Internatsschülerin, die für eine Lehrerin starke Gefühle entwickelt“. Mann und Frau lasse sich das auf der Zunge zergehen! Frau verzeihe mir den Ausdruck: Frauen ficken halt mit Gefühlen, was bei Entzug aber genauso schmerzhaft sein kann…
Ich möchte dieses Thema mit einem Hinweis auf das Gedicht „Erlkönig“ abschliessen, in dem es neu-psychoanalytisch um sexuellen Missbrauch eines Knaben durch einen Mann geht. Hingegen in dem Märchen „Hänsel und Gretel“ kann Frau nichts davon erkennen, obwohl die Hexe nicht an dem Finger von Hänsel, sondern an seinem Penis interessiert ist, ob der schon „richtig gross“ werden kann!
Carolin Emcke liebt es, Un-Eindeutigkeiten zu beschreiben und zu umschreiben. So wie sie selbst sich schon immer verstanden hat. Gender. Rumbalgen mit Jungs und alles offen lassen. Gewertet und eingeordnet wird am Ende – und nie gemeinsam…
Interessant sind ihre Beschreibungen aus Gaza, wo sie von Einheimischen begleitet wird. Sie erlebt zunächst die Begegnung mit Frauen, die traditionell gekleidet, sie mit ihren kurzen Haaren und Hosen, nicht als „Ihresgleiche“ erkennen können. Noch interessanter ist ihre Begegnung mit einen Mann, den sie wiederum nicht als „Hetero“ erkennen kann!
„Und da stand er nun vor uns, und wir schauten fassungslos auf diese Erscheinung, als sei er eine Fata Morgana, die sich gleich in gestaltloses Flirren auflösen würde: Ibrahim trug eine Jeans, einen strahlend weissen, puffigen Daunen-Anorak und eine überdimensionale Sonnenbrille, die George Michael bei seinen Konzerten in den Achtzigern hätte tragen können.“
„Schon bei den ersten Sätzen zur Begrüssung … war klar, was nicht klar sein durfte: Ibrahim war schwul. Ein Schwuler in Gaza.“
Für sie war er ein Gender, der nach europäischen Massstäben ein Schwuler war, während in Gaza natürlich kein Mensch für so einen wie ihn eine Bezeichnung hatte. Und der langsame Annäherungsprozess zu ihm als Dolmetscher verharrte in einer Art sexlosem Raum, wie es auch „territoriumslose“ Räume auf Flughäfen für Durchreisende gibt.
„Vielleicht wusste Ibrahim nicht, wie er wirkte? Woher sollte er das auch wissen? Aber musste er nicht zumindest bemerken, dass er anders aussah, sich anders gab als alle anderen jungen Männer um ihn herum? Wie konnte das sein? Wusste er nicht, wie schwul er sich gab? War er überhaupt schwul?“
Das erinnert mich an die frühen Beschreibungen orientalischer und arabischer Händler, die sich mit allerhand Tand schmückten, farbig kleideten und sich mit duftendem Parfum versorgten…
„War das Tabu zum Opfer seiner selbst geworden: Wurde Homosexualität derart unterdrückt, dass Hamas es nicht einmal erkannte, wenn ein Schwuler vor ihnen stand? Wenn über Homosexualität nicht gesprochen werden darf, dann darf auch nicht gesprochen werden, was Homosexualität ausmacht.“ (3)
Nicht einmal auf eine beiläufige aber direkte Frage nach Homosexuellen konnte der „Mann“ antworten, offenbar gab es keine entsprechende Identität oder Gender für ihn. Sehr wahrscheinlich gab es für ihn einen anderen Begriff, eine andere Auffassung, eine andere Sicht. Als Junge nahm ich zwar typische Homosexuelle zur Kenntnis, aber da ich ja nicht so erschien wie dieselben, empfand ich mich auch nicht als schwul. Ich bin zwar in der Schule und auf dem Weg gemobbt worden, aber keineR sagte je etwas über das Warum! Dabei sagte mir ein Schülerkollege später, er hätte schon immer gewusst, dass ich schwul sei.
Nach einem Angriff der Israelis auf Gaza, reiste Emcke wieder ein und begegnete erneut diesem Ibrahim. Und es war, als sei er so geschockt worden, als er ihr gegenüber erklärte, dass er schwul sei. (Leider gibt sie das Original-Wort nicht an.) Er hätte es bisher noch niemandem gesagt. Die Geschichte von Ibrahim geht in dem Buch weiter, bis zu seiner Flucht nach Europa. Die Scham von zuhause verwandelte sich: „er war froh, sich seiner Homosexualität nicht mehr schämen zu müssen, aber musste sie deswegen gleich schamlos sein?“
Was mich an der Geschichte mit Ibrahim störte, ja ärgerte, war das Schweigen über die Gründe der Diskriminierung männlicher Homosexualität in Gaza. Auch wird die historische Entwicklung der Diskriminierung, erst von Männern, dann auch von Frauen völlig ignoriert. Denn Frauen waren traditionellerweise kein Teil des öffentlichen Lebensraumes! Und da Emcke sich vor allem als „queer“ versteht, musste sie auch die Geschichte mit dem § 175 in der BRD, der sich auf Männer beschränkte erst nachlesen. Die Tatsache, worauf die sozial-politische Kriminalisierung der Männer wirklich beruht, erfahren wir von ihr auf S.116, fast in der Mitte des Buches. Und welcheR LeserIN findet da noch die Verbindung zum vorher erwähnten sexuellen Missbrauch?
„Was an den männlichen biologischen Verschiedenheiten wird denn in den Begegnungsformen so bedrohlich? Analverkehr? Das ist ja keine sexuelle Praxis, die ausschliesslich Schwulen vorbehalten ist, das kann auch Frauen Lust bereiten. Oder ist es die misogyne Angst vor Penetration, die Vorstellung, dass Männer nicht nur gefickt werden können, sondern dass Männer gefickt und dadurch erregt werden könnten, die als staatsgefährdend gilt?“
Die Begehrensformen werden nicht weiter ausgeführt. Weiter hinten findet sich dann ein Satz, der mich wieder ärgert: (wie die Fragezeichen im vorhergehenden Zitat) „Homosexuelle Frauen begehren Frauen, weil sie begehren – nicht, weil sie nicht begehren.“ (S. 127) Er wird zur zentralen Aussage erst dann, wenn er wie folgt lauten würde: Menschen begehren das gleiche Geschlecht, weil sie Identität begehren, nicht, weil sie nicht begehren! (P.Thommen) (4) Emcke formuliert das so: „Aber mit Frauen ist es einfach aufregender.“ (S. 142) Und sie hat auch eine Erklärung für sich formuliert.
In einem Kapitel über Prostitution und Huren formuliert sie ihr Entsetzen über die heterosexuellen Verhältnisse und wie sie sich mit den Nutten identifiziert. (5) Frauen verstehen aber nicht den Unterschied zwischen der heterosexuellen Prostitution und der homosexuellen! Diese bietet nicht das gleiche wie in der Ehe, sondern etwas „anderes“ und sie findet nicht unter den gleichen Bedingungen statt.
S. 192 sortiert sie ihre frühen Erfahrungen neu: „Ich wollte andere Mädchen oder Frauen lieben dürfen. Und dieses Verlangen, ohne dass ich das darin enthaltene Lustvolle erkannt hätte, dieses tiefe Verlangen taucht auch auf, immer wieder, bei verschiedenen, meist älteren Frauen, nur verband ich es nie mit der Vorstellung von Homosexualität. Ich verband es nicht einmal bewusst mit „Liebe“.
Diese Definition gilt es zu respektieren, sie ist authentisch und glaubhaft. Aber es gibt auch noch schwule Sichtweisen, Erlebnisweisen, die zwar auch „gleichgeschlechtlich“ konnotiert sind, aber viel „sexueller“ ausgeprägt. Und wenn ich sexuell meine, dann bitte nicht nur „ficken“! Und hier verweise ich nochmals auf Martin Danneckers Zitat! Peter Thommen_63, Buchhändler
P.S. Das Buch gibt Anlass zu weiteren Diskussionen dieser Art. Es enthält weitere Erzähl- und Themen-Stränge.
Carolin Emcke: Wie wir begehren, Fischer 2012, 256 S.
1) Die Geschlechtsspezifische Durchsetzung des Genitalprimats findet (nach Freud) „ihren Niederschlag auch darin .., dass die Frau vor allem einen Sexualkörper, der Mann hingegen vor allem ein Sexualorgan, aber keinen sexuellen Körper hat.“
(Indem das Sexualziel darin besteht, mit dem Penis in die Vagina einzudringen, was – wie Dannecker daraus folgert – den Penis zu seinem einzigen Sexual-organ macht.)
„Historisch betrachtet erscheint das durchaus zutreffend. Ein ganzes Bündel von Phänomenen deutet darauf hin, dass heterosexuelle Männer bis vor kurzem keinen sexuellen Körper hatten, jedenfalls nicht in dem Sinn, wie er Frauen und homosexuellen Männern eigen ist. Das will sagen, dass sich der Körper der heterosexuellen Männer der Sexualisierung entzog. Ein sexualisierbarer Körper erschien lange gleichbedeutend mit einem Frauenkörper oder einem „Schwulenkörper“ … Martin Dannecker: Männliche und weibliche Sexualität, in: Quindeau/Sigusch: Freud und das Sexuelle, S. 87)
2) Es gibt Knaben, die haben NICHT kein Begehren, sondern eben ein Begehren nach Männern, auch neben der Bereitschaft für Frauen! Aber das ist für Frau Emcke wiederum so unwichtig, wie ihr lesbisches Begehren es für die Heterokultur ist. Und es gibt nicht nur Männer, die Knaben missbrauchen, sondern auch Knaben, die Männer ficken wollen! Doch das trauen sich viele Schwule nicht öffentlich auszusprechen! Damit nimmt man/Frau uns Männern aber einfach einen Teil unserer sexuellen Biografie weg! Kriminalisiert und entsorgt in der Schublade „Missbrauch“!
3) Sinngemäss kann davon geschrieben werden, dass, wenn über männliches Begehren, vor allem nicht über dasjenige des Jüngeren zum Älteren, nicht gesprochen werden darf, dann darf auch nicht darüber gesprochen werden, was diese Liebe (Gerontophilie) ausmacht! Praktischerweise wird sie im Wort „Pädophilie“ gefasst und generell als Missbrauch entsorgt.
4) Und nicht erst politisch-korrekt ab 16, oder gar 18 Jahren! Ich wiederhole, es geht hier ums Begehren und nicht um „strafbare Handlungen“!
5) S. 145-153