Biologie & Homosexualität

Der Titel eines schmalen Bändchens das von Heinz-Jürgen Voss, einem Biologen und Geschlechterforscher im unrast-verlag im Februar dieses Jahres publiziert wurde.

Gedacht für die Diskussion über „Theorie und Anwendung im gesellschaftlichen Kontext“. Ob der Text allerdings die Diskussionen in den Medien und unter Schwulen erreichen wird, bleibt offen. Der „Gesch-lechterdschungel“, der sich in den letzten Jahren eröffnet hat, wird nur noch von wenigen wirklich überblickt!

In der aktuellen Diskussion um die „Homo-Ehe“ ist der Streit um Natur und Natürlichkeit von Männersexualität* erneut heftig entbrannt. Soll jetzt die Homo-Ehe endlich das beweisen und „besetzen“, was die „Normalen“ heftigst für sich alleine verteidigen?

Vorab sei angemerkt, dass erfolgreiche Fortpflanzung weder ihre Natürlichkeit, noch die Unnatürlichkeit alles Anderen zu beweisen imstande ist. Ich glaube es war Dominique Fernandez, der darauf hingewiesen hat, dass Freud ein Zeitgenosse der aufkommenden kapital-intensiven (-istischen) Produktions-weise gewesen war. Voss weist selbst darauf hin, dass in der christlichen Glaubenslehre das menschliche Sexualverhalten völlig auf die „Produktion“ reduziert worden ist, egal ob das nun Lust bereitete, oder mühsame Pflicht war.

Bei Magnus Hirschfeld habe ich den historischen Verlauf der religiösen Verfolgung von Sexualität zwischen Männern nachlesen können. Aber irgendwann hatten die Kirchen die Macht darüber verloren und die Unterdrückung setzte sich im „irdischen“ Bereich fort!

Sexualhistorisch wurden die Bezeichnungen für Abweichendes vor dem Begriff der Normalität „erfunden“. Es gab also ursprünglich nur ein „Sammelsurium“ von Vorstellungen über die Fortpflanzung, woraus die Bezeichnungen für die Beteiligten abgeleitet worden sind.

Jedenfalls waren die sexuellen Betätigungen zwischen Männern lange vorher „da“ – also bevor Begriffe und Bezeichnungen dafür gesucht und dann ange-wendet wurden!

Michel Foucault hatte ein Konzept der „Bio-Politiken“ in seinen Büchern über „Sexualität und Wahrheit“  und „Überwachen und Strafen“ (dt. 1977 und 1983) entwickelt.

„Dieser Beitrag setzt hier an. Er fokussiert Fragen um die „Natürlichkeit“, die „biologische Bedingtheit“ gleichgeschlechtlichen Begehrens und Handelns, behält dabei aber auch die gesellschaftlichen Entwicklungen im Blick. Damit wird nachvollziehbar, wie sich in der bürgerlichen Gesellschaft die Idee durchsetzen konnte, Sexuelles mit physischen und physiologischen Merkmalen theoretisch zu verbinden, Abweichungen von einer Norm zu konstruieren und tilgen zu wollen. Praktische Möglichkeiten zur Auslöschung von Abweichungen wurden zunächst theoretisch erarbeitet und ihre Anwendung ausführlich diskutiert; schliesslich wurden sie – äusserst qualvoll für die betroffenen Menschen – umgesetzt.“ (Voss, Einleitung, S. 5) (1)

Wesentlich in der historischen Diskussion (siehe auch bei Hirschfeld: Die religiöse Verfolgung…) ist der Begriff der „Sodomie“. Hierunter konnte alles verstanden werden, von Ketzerei gegen den Glauben, Politisches, Analverkehr mit Männern und Frauen, bis zum Sex mit Tieren, die als einzige Tat in der deutschen Sprache noch unter diesem Begriff übrig geblieben ist! (im Französischen: sodomiser = Analverkehr) Die Biologie hatte sich also längst „brauchen lassen“, bevor der Begriff „Homosexualität“ überhaupt in der Neuzeit formuliert worden ist.

„Geistesgeschichtlich wird die Renaissance (ab dem 15. Jh.) als Ausgangspunkt der europäischen Moderne gesehen. In dieser Zeit sind auch die Anfänge der modernen Kolonialismus und des Rassismus zu verorten. Ökonomisch gilt die Moderne ab der Industrialisierung seit Mitte des 18. Jh. und der damit verbundenen dominanten Verbreitung kapitalistischer Produktionsverhältnisse als durchgesetzt. Politisch setzte sich die Moderne – die Herrschaft der Bürgerlichen in der Gesellschaft – Ende des 18. Jh. mit der französischen Revolution und schliesslich mit der Herausbildung von Natio-nalstaaten im 19. Jh. durch.“ (Voss, S. 7)

„Diese Eckdaten im Blick zu haben ist bedeutsam, da die Konstituierung des „Homosexuellen“, die schliesslich insbesondere über einen biologischen und medizinischen Diskurs erfolgte, nicht von den ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ablösbar ist.“ (Voss, S. 7)

Ursprünglich wurden „Handlungen“ von Individuen – also unter Männern – verboten! Noch genauer, von Männern, die aus den Vorstellungen der Gesellschaft und ihren „Nominierten“ heraus-„gefallen“ waren und erst mit Strafe und Unterweisung „korrektioniert“ werden mussten. Grob gesagt geht es in der Bibel niemals um „Homosexuelle“ – und historisch sehr lange darum, dass quasi Normale einzelne Handlungen begangen hatten, von denen sie dauerhaft abzubringen waren. (2)

„Die wirtschaftlichen Veränderungen bildeten die Grundlage für die Herausbildung erster Ansätze von „Subkulturen“ gleichgeschlechtlich Begehrender, die Verfolgungswellen gegenüber den Sodomiten bildeten einen weiteren und massiv identitätsstiftenden Hintergrund.“ (Voss, S. 8)

Hier wird es enorm wichtig, darauf hin zu weisen, dass sich allmählich die Handlung Schritt für Schritt auf den Handelnden als Identität übertrug! Subkulturen wie die geschlechtsgetrennten Pissoirs, oder der Park, oder die nach Geschlechtern getrennten Schlafräume (seit vorgeschichtlichen Zeiten!) bildeten einen Raum, in welchem auch Männer bewegten und gleichgeschlechtlich aktiv waren, deren Identität nicht eine „sodomitische“ oder „homosexuelle“ war, oder gar eine daraus wurde!

Geschätzte dreissig Prozent der User auf einer schwulen Plattform im Internet definieren sich selbst nicht als „gay“. Und trotzdem wird die Plattform als „schwule Plattform“ definiert. Nicht nur das „Beichtgeheimnis“ und das intensive Sprechen über Handlungen formten eine Identität. Auch ein Schweigen kann Identität stiften, oder eine solche gerade verhindern. Damit bleibt dann ein Mann ein „Mann“ – obwohl er sich auch „unmännlich“ betätigt…

Vor allem in Bezug auf „Biologie und Homosexualität“ sollte klar(er) werden, dass es dabei immer um „alle“ Männer geht, nicht nur um die „spezifizierten“. Schliesslich haben alle Männer eine Prostata und nicht nur „die Homosexuellen“!

Während also im Bereich des Kirchenrechts und bis zur Moderne keine „handlungsadäquate“ Identität existierte, „änderte sich das mit der Moderne, eng verknüpft mit der Entwicklung kapitalistischer gesellschaftlicher Verhältnisse und moderner Staatlichkeit…“ (Voss, S. 10.)

Ich kann mich erinnern, im Strafgesetzbuch des Kantons Basel-Stadt (also vor 1942) gelesen zu haben, dass die gelegentliche Prostitution als „Abhalten von Schule und Arbeit“ mit einer Busse bestraft worden ist – egal welches Geschlecht die Person hatte.

„Im Lauf des 19. Jh. änderten sich auch die Strafsysteme und man ging von Körperstrafen ab – und auch das ist relevant für die Etablierung klarer Identitäten und die zunehmende Bedeutung der Medizin hierbei.“ (Voss, S. 11)

„Die Medizin wurde bezüglich Homosexualität zur klassifizierenden und entscheidenden Instanz. Einer der Ersten, die sich dazu auf den (natur-) wissenschaftlichen Stand der Zeit beriefen und diesen weiter entwickelten, war Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895).“ (Voss, S. 11) (3)

Während in der Zeit nach Ulrichs die allgemeinen medizinischen, biologischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse und Forschungen immer breiter werden, engt sich der Blick von Voss auf die Homosexualität als solche ein.

Nach den Hinweisen auf die Kolonialpolitiken und den sich entwickelnden Rassismus, weist er nun auf die Eugenik und die Sichtweise der sogenannten „Degenerationserscheinungen“ hin. Voss stellt die Theorien chronologisch vor. Erst die konstitutionelle Bisexualität, dann die Rolle des Keimdrüsengewebes (Hoden und Eierstöcke) und seine Absonderungen bis zu den Hormonen. Auch die operationellen und medizinischen Versuche auf diesem Gebiet werden aufgeführt!

Als verhängnisvoll erweist sich historisch der Drang nach Beschreibung von Personen, von denen mann-männliche sexuelle Aktionen bekannt geworden sind. Was ich hier bereits „Sexismus“ nennen muss, entspricht völlig den Entwicklungslinien von Rassismus und „Verbrechensforschung“ (Physiognomik, nach Lavater und Huter). Mann glaubte an äussere „Erken-nungszeichen“ und begann äussere Handlungen mit inneren „Orientierungen“ gleich zu setzen.

Später ortete die „Wissenschaft“ die sexuelle Orientierung in Hormonen und im Gehirn. Günter Dörner hatte in der DDR mit seinen endokrinologischen Expe-rimenten umstrittene Ergebnisse publiziert.

Bei der Entwicklung der Genforschung stellte sich erneut die Frage nach der Vererbung und Natürlichkeit „sexueller Handlungen“. Voss lässt sich auf die evolutionsbiologische Diskussion ein: „ … dabei werden dann ausgewählt nur diejenigen Ergebnisse der Zwillingsstudien und der Genetik präsentiert, die die These der Erblichkeit zumindest teilweise stützen. Die Studienergebnisse, die der These widersprechen, werden in der Regel gar nicht angeführt.“ (Voss, S. 62)

Emanzipatorisches Streiten: „Deutlich wird auf jeden Fall, dass die Selbstermächtigung der Lesben und Schwulen bei Bezug auf biologisch-medizinische Wissenschaften beschränkt ist… Ob die in zahlreichen Ländern zu beobachtenden neueren gesellschaftlichen Entwicklungen, die eine stärkere soziale Anerkennung von Homosexualität versprechen, zu grundlegenden Änderungen führen, bleibt abzuwarten.“ (Voss, S. 67)

Heinz-Jürgen Voss fügt am Schluss noch eine zusammenfassende Darstellung der zentralen Studien zur Biologie männlicher und weiblicher Homosexualität an, sowie eine Liste der zitierten und der von ihm empfohlenen Literatur.

Ich denke, dass die Einschätzung „homosexueller Handlungen“ von „nicht homosexuellen Männern“ noch ein wichtiger Schritt sein wird, der die Diskussion um „Natürlichkeit“ beruhigen könnte. Denn schliesslich dreht sich die Forschung auch nicht nur um die „Minderheit der notorischen“ Heterosexuellen! Inzwischen werden die Männer weiterhin denken, dass es viele Möglichkeiten der sexuellen Entspannung gibt – auch mit anderen Männern! 🙂

Peter Thommen_63

 

Heinz Jürgen Voss: Biologie & Homosexualität. Theorie und Anwendung im gesellschaftlichen Kontext, unrast Verlag 2013, 88 S.  ca. CHF 9.80

 

(1) Siehe auch meinen Text über Braunschweig: Das Dritte Geschlecht, PDF, S. 8!

(2) Puff, Helmut: „Und solt man alle die so das tuend verbrennen, es bliben nicht funffzig mannen in Basel… (Forum HS+Literatur, Nr. 10, S. 83-92)

(3) Für die Schweiz sei auf Heinrich Hössli (1784-1864) hingewiesen!

*Die Diskussion im Frauenbereich muss redlicherweise von diesen geführt werden!

 

P.S. Über die „Medizinialisierung“ homosexueller Handlungen in der Schweiz muss ich auf die Publikation „Männergeschichten“ (Buchverlag der Basler Zeitung, 1988) verweisen:

Rolf Trechsel: Die Medizinalisierung der Homosexualität, S. 204-206

Sigi Friedli: Psychiatrie und Homosexualität, der Fall Ernst Rüdin (Friedmatt, Basel), S. 207-212)

Rolf Trechsel: Die Kastration Schwuler in der Schweiz, S. 213-25

Ein im Wesentlichen noch unaufgearbeitetes Kapitel!

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