Was man damit anfangen kann, das erzählt uns Edouard Louis in seinem autobiographisch gefärbten Roman „das Ende von Eddy“. Für viele ist nicht klar, warum er ein „Ende“ beschreibt. Das tut er, weil er mit seiner Kindheit und Jugend endgültig abgerechnet hat. Der Roman ist seine Abrechnung mit allem und allen. Darum hat er sich auch einen neuen Autorennamen zugelegt.
„Ich habe die Geschichte von Eddy erzählt, ein Porträt des Dorfes gezeichnet, in dem er aufwächst, der Menschen, die ihn umgeben, um die Erfahrung des Dominiertwerdens greifbar zu machen.“ (1)
Das heisst also, dass er sein „persönliches“ Drama in den politischen Zusammenhang stellt. So wie es die Schwulenbewegung gemacht hat. „Im Flur fragten sie mich, wer ich sei, ob ich wirklich Bellegueule sei, über den alle reden. Sie stellten mir jene Frage, die ich mir dann selbst stellte, monate-, jahrelang, bist du der Schwule?“ (2)
Wie viele schwule Kinder fragte er sich, woher das kam, was andere „Schwuli“ nannten: „Meine Eltern nannten das „Getue“. Sie sagten: Lass doch das Getue. Sie wunderten sich. Warum benimmt Eddy sich wie eine Tussi? Sie sagten: Reg dich ab, muss das sein, dieses tuntige Gefuchtel. Sie dachten, es sei meine Entscheidung, dass ich mich so benahm, als wäre das eine Ästhetik, die ich kultivierte, um sie zu ärgern.“ (3)
Die Metapher vom „schwulen Kind“ gibt es noch gar nicht. Die Eltern stossen sich daran, weil es ihnen etwas sichtbar macht, das sie ja „gar nie vermittelt haben“! Nach der bewährten Hetero/a-Legende: So etwas gibt es in unserer Familie gar nicht.
Auch der Versuch, sich in die Mädchenkleider seiner Schwester zu stürzen, erschien ihm schliesslich zu absurd.
In der Mittelschule ausserhalb seines Dorfes war er mit neuen Leuten konfrontiert, die ihn neu taxierten. Ein Schüler liess ihn vor den Kollegen auf und ab laufen. Er sagte zu ihnen: „Passt mal auf, wie der läuft, total schwuchtelig, und er versprach ihnen, sie würden was zu lachen haben. Als ich mich weigern wollte, machte er mir klar, dass ich keine Wahl hatte und dafür büssen würde, wenn ich mich weigerte. Wenn du es nicht machst, kriegst du ein paar aufs Maul.“ (4)
Es ist erstaunlich, wie das Kind und der Jugendliche sich an der Rolle der Männer, dem Dorf und seiner Familie abarbeiten musste. Er porträtiert die Mutter, die Familie und die Menschen um ihn herum mit Geschichten aus ihrem Leben – bis ins Schlafzimmer der Eltern. Auch die sexuellen Übergriffe von heterosexuellen Jungs bekommen ihren Platz. Wir sehen, wie gewisse Sexualfantasien entstehen, sich verstärken und etablieren können.
„Alles was man nicht hören wollte, wurde als Privat-angelegenheit ausgelegt. Mich hat es interessiert, diese Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem neu auszuloten.“
„In allen Ländern, in denen der Roman bisher erschienen ist, wurden beide Themen, Klasse und Homosexualität, immer zusammen gesehen. Genau darum ging es mir ja auch, zu zeigen, wie sich beides bedingt. Schwul zu sein im Iran, in Russland, im Marais in Paris, in Berlin, oder in einem kleinen Dorf in Nordfrankreich, ist eben nicht dasselbe.“ (1)
Er versucht erfolglos zu fliehen. Er versucht auch, eine Freundin zu haben. Erst der Wegzug an eine höhere Schule und in ein Internat ermöglichen es ihm schliesslich, mit seiner Vergangenheit abzuschliessen. Und mit dem Namen Edouard Louis ist sein Leben als Edouard Bellegueule definitiv beendet.
Edouard Louis: Das Ende von Eddy, S. Fischer 2015, 205 S. ISBN 978-3-10-002277-6
Auch die französische Ausgabe ist lieferbar! Und die italienische besorgt ARCADOS auch!
1) Edouard Louis im Interview mit Friederike Schilbach
2) EL, dt. S. 13
3) EL, dt. S. 24 (hierzu sh. im Interview bei France Culture wie er – ab min 9’55 mit den Händen spricht!)
4) EL, dt. S. 32
Epilog
Erfreulich, wie ein Junge die Worte wieder findet, die schon frühere Generationen formuliert haben! Und die „Tränen“ der Heteros darüber sind so heuchlerisch. Jedesmal müssten sie sich fragen, wer die Verantwortung dafür trägt und jedesmal wird das ausgeblendet. Auch wenn geschrieben wird: „Seine Tränen sind politisch!“ Denn niemals hatte es Konsequenzen in der Politik. Es wurden die juristischen Vergewaltigungen beseitigt, denn damit drang nichts mehr in die Medien und die Öffentlichkeit. Selbst die anale Vergewaltigung durch Heteros wird in keinen Interviews, die ich gesehen habe, thematisiert. Denn eigentlich ist ja immer der Schwule der Täter an den Heteros. Und so soll es ja auch weiterhin bleiben. Auch in der Sicht von Frauen. Denn wenn es „gebürtige Schwule“ geben würde, stimmte das Bild nicht mehr vom verführten und sexuell missbrauchten männlichen Kind! Es wäre zu revolutionär. Peter Thommen
Der Text als PDF Eine schöne Fresse + Bücherliste (barcaos 02’15)
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