Edouard Louis – ein „subproletarischer“ Schwuler

Dieser „Begriff“ ist mir anlässlich der Grossratswahlen in Basel 1984 erstmals vor die Augen gekommen. Aber beim lesen seines Buches „changer méthode“ (2021)* ist mir klar geworden, was ein solches Leben beinhalten kann.

In seinem ersten Text, „Das Ende von Eddy“ (2014/ dt. S. Fischer 2015) hatte er sich sein coming out“ erschrieben“ und wurde damit zu einem „shooting star“. Anschliessend setzte er sich mit einer späteren weiteren Vergewaltigung auseinander (histoire de la violance), die ihm widerfahren ist. In weiteren Büchern schilderte er sein Leben mit dem Vater und dann der Mutter.

Nun beschreibt er intensiv, wie es ihm dabei erging, unbedingt „ein Anderer“ zu werden. Er wollte seine ganze Kindheit, seine verpasste Jugend und seine Herkunft „hinter sich lassen“. Ob ihm das gelungen ist?

„Auf diesem Weg spielen einander ablösende Bezugspersonen eine zentrale Rolle, die ihm jeweils neue Welten eröffnen und radikale Selbstveränderungen anstoßen. Durch Imitation versucht sich der Protagonist ganz den neuen Milieus anzupassen, die den ersehnten Bruch mit der Herkunft versprechen.“… „Habe er im Erstling erzählt, wie er als Kind alles dafür tat, sich anzupassen und trotz seiner Homosexualität nicht aufzufallen, wolle er nun beschreiben, wie er jede Anstrengung auf sich nahm, um einen Ausweg aus den bedrückenden Verhältnissen zu finden.“ (Riva, FAZ)

„Ich bin nicht gegangen, weil ich es wollte, ich wurde zur Flucht gezwungen, weil der Determinismus meiner Klasse, ihr Männlichkeitskult, mit dem Determinismus meiner sexuellen Orientierung, der Tatsache, dass ich schwul bin, kollidierte. Die Gewalt, die daraus resultierte, hat mich fortgedrängt. Ich war, wie Sartre sagen würde, dazu verdammt, frei zu sein…

Man kritisiert mich oft für diese Haltung, dafür, dass ich den Menschen die persönliche Verantwortung abspreche. Aber ich finde es viel optimistischer zu sagen, dass gewisse Situationen einen dazu bringen, seiner Herkunft zu entkommen, statt immer zu behaupten, dass dieser Impuls ganz unabhängig von allem aus einem selbst heraus entstehen muss.“ (Louis im Interview mit Annabelle Hirsch, FAZ)

Wer seine Veränderungen ermöglicht/begleitet hat: „Bei mir waren es meist Frauen, die mir geholfen haben, die Bibliothekarin, die Lehrerin. Sie haben mir einen Zugang zur Kultur verschafft,  zu Büchern, Filmen, Theaterstücken. Für Menschen wie mich, die sich immer fehl am Platz gefühlt haben, ist das sehr wichtig. Nicht nur wegen der Werke, sondern vor allem wegen der Menschen, die im Kulturbereich arbeiten.“ … Sie eröffneten ihm neue Lebens- und Denkräume, um sich in der Gesellschaft auch mit anderen Schwulen zu befassen.

„Man will die Leute an ihrem Platz halten und tadelt sie, wenn sie es nicht tun. Man sagt, sie würden lügen, manipulieren, sich für etwas ausgeben, das sie gar nicht seien, man nennt sie „Parvenü“ oder in Frankreich „Rastignac“, nach dem Helden von Balzac. Die Literatur ist voll von solchen Figuren, meist sterben sie am Schluss, so wie die Frauen, die zu viel wollten, so als müsse man sie für den Hochmut bestrafen, geglaubt zu haben, entkommen zu können. Das ist eine sehr brutale und subtile Form der Zurechtweisung und der Unterdrückung, gegen die ich mich auflehne.“ (Edouard Louis im Interview mit Annabelle Hirsch)

„Durch Imitation versucht sich der Protagonist ganz den neuen Milieus anzupassen, die den ersehnten Bruch mit der Herkunft versprechen. So etwa an Elena und ihre kultivierte bürgerliche Familie, der im Buch große Bedeutung zukommt – nimmt sie den besten Freund der Tochter doch gleichsam als neues Mitglied bei sich auf … So weit ihn auch die Flucht trägt, in den neuen Milieus kommt er nicht an, fühlt er sich nicht zugehörig und nicht glücklich, sodass die Flucht zur nicht enden wollenden Odyssee wird.“

Habe er im Erstling erzählt, wie er als Kind alles dafür tat, sich anzupassen und trotz seiner Homosexualität nicht aufzufallen, wolle er nun beschreiben, wie er jede Anstrengung auf sich nahm, um einen Ausweg aus den bedrückenden Verhältnissen zu finden. Das aktuelle Buch positioniert er so gleichsam als ein zweites, das erste komplementierendes Hauptwerk. Wie Louis gegenüber der Tageszeitung Le Monde sagte, habe er an „Changer: méthode“ nicht weniger als vier Jahre lang gearbeitet und dabei immer wieder frühere Entwürfe verworfen. (Riva, FAZ)

Es gibt auch Unverständnis in der Diskussion um seine Texte: „Edouard Louis hat die Wehleidigkeit zum literarischen Programm erhoben. Und in der Disziplin Schamlust hat er es inzwischen zu grösster Meisterschaft gebracht. Keiner kultiviert hingebungsvoller den Selbstekel… Zu allem anderen aber mangelt es Edouard Louis an der Bereitschaft, das eigene Leid und den selbstzerstörerischen Umgang damit nicht nur plakativ auszustellen, sondern mit aller Schärfe des Verstands zu durchdringen.“ (Roman Bucheli in der nzz vom 31.10.22, S, 30)

So würde heute wohl kein Kritiker mehr mit Texten von betroffenen Frauen umgehen. Das zeigt, wie fern die öffentliche Diskussion immer wieder von den Zusammenhängen zwischen der Situation von Schwulen und von Frauen ist. Letztere mussten sich auch langwierig durch ihren Verstand selbst ermächtigen.

Als Zeitgenosse der Schwulenbewegung ärgert es mich immer wieder, dass die Erkenntnisse von damals über Männlichkeit und Frauenleid und sexuell motivierte Gewalt aus aller Öffentlichkeit und auch innerhalb von schwulen Gruppen „verschwunden“ sind. So findet keineR mehr den Faden zu Selbsterkenntnis. Und dies dann zum Vorwurf zu machen, wie es Bucheli tut, ist unredlich.

Peter Thommen_72, Schwulenaktivist, Basel

1984 gingen POB, PdA, SAP und die „Spatzen“ als kleine Parteien mit Kleinstgruppen eine Listenverbindung ein. Es meldete sich in der Presse auch eine „Aktion zur Besserstellung des Subproletariats“ für soziale Randgruppen wie: Subproletarische Schwule, Prostituierte, Fixer, Obdachlose, Alkis, Haschisraucher usw) Fundsache im come out Nr. 35, Jan. 1992

* deutsch „Anleitung ein Anderer zu werden„, aufbau 2022, 272 S.

Zitate aus:

Miguel de la Riva: Ausbruch nicht mehr ausgeschlossen, FAZ 16.11.21

Annabelle Hirsch: Was es für mich hiess, zur Freiheit verdammt zu sein, Interview mit Edouard Louis, FAZ 11.09.22

Roman Bucheli in der nzz vom 31.10.22, S, 30

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