Beim näheren Durchschauen der Broschüre der haz aus dem Jahr 1989 bin ich auf ein Interview von Schwulen mit Parin gestossen. Er war damals gerade 73, wie ich heute.
Zur Bedeutung von Schwulen- und Lesbenbewegung und Frauenbefreiungsbewegung: „Diese Bewegungen gehören zu den ganz wenigen kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Bewegungen in unserem Land, die ich als fortschrittlich bezeichne und die Dauer haben werden.“
Leider reden diese Bewegungen aus ganz bestimmten Gründen, die diskutiert werden müssen, nicht miteinander. Seit Jahrzehnten.
„Die Frauenbefreiungsbewegung und damit alle von der Geschlechtsrolle und dem Geschlechtsleben herkommenden emanzipatorischen Bewegungen, haben für mich eine Art Pilotbedeutung.“ Das entspricht der Erfahrung, dass Minderheiten und Marginalisierte (Frauen sind keine Minderheit) mit ihrem Status auch das Niveau der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung anzeigen.
„Noch aus einem anderen Grund werden sie nicht mehr so leicht zum Schweigen zu bringen sein: Sie lassen sich nicht so leicht durch Unterdrückungsmassnahmen wie nationalistische oder rassistische Vorurteile ausgrenzen. Man kann die Juden oder die Schwarzen als andersartig zum Sündenbock machen, da aber wohl jeder Mann und jede Frau in sich auch homosexuelle Tendenzen hat, geht das nicht so leicht.“ (Verständlicher > In ihrer Natur sind Menschen gleichgeschlechtlich ausgerichtet, also der Zusammenhalt innerhalb gleicher GeschlechtER ist sozial dominant. Das sah ich immer bei Familienanlässen, wenn diese Gruppen von einem Ort zum anderen zu Fuss gehen mussten. Die körperliche Sympathie wird verdrängt oder hierarchischen Ritualen untergeordnet.)
Parin weist darauf hin, dass bei grosser Unterdrückung körperlicher Sympathie und Verdrängung sexueller Impulse, die Diskriminierung auch grosse Sprengkraft hat. In Krisenzeiten verstärkt sich die Repression und dann müssen sich deren Zielgruppen solidarisieren. Die schweizer AIDS-Kampagne sei deswegen „nicht so schlecht gelaufen“, weil die daran Interessierten (Schwulen) sich sofort politisch eingeschaltet hatten.
Die haz-Leute fragen: Es gab und gibt aber immer viele Schwule und Lesben, die sich als unpolitisch bezeichnen. „Sie hatten Angst, sie wollten sich nicht noch weiter herauswagen. Aber trotzdem waren sie politisch, allein durch die Tatsache, dass es sie gegeben hat – sie wussten es nur nicht.“
Stimmt die Beobachtung, dass Frauenunterdrückung und Schwulenunterdrückung immer parallel auftreten?
„Häufig, aber nicht immer. In unserer Kultur ist es wohl gekoppelt, da gehört es zur Ausstattung des ganzen Chauvinismus oder wie man das nennen will. In den westafrikanischen Gesellschaften zum Beispiel spielt die Schwulenunterdrückung keine Rolle; die Frauenunterdrückung hat aber besonders in den letzten Jahren stark zugenommen.“ (1989)
Wie sehen Sie die Verbindungen zwischen der Linken und diesen sozialen Bewegungen?
„Die Ausgrenzung von Gruppen, von Fremden oder anderen Minderheiten, gehört zur ideologischen Ausstattung von Herrschaft. Wer zu seinen Rechten kommen will, gehört notgedrungen zu denen, die protestieren und revoltieren. Alle diese Gegenbewegungen gehörten zu dem, was man früher die Linke genannt hat. Die Linke wehrte sich gegen die Transformation des Staates in ein Herrschafts- und Unterdrückungsinstrument. Heute kann man mit Recht sagen, dass dieses Links-Rechts-Schema nicht mehr trägt.“
Gibt es denn eine sozusagen naturgemässe Verbindung zwischen der Frauen- oder Schwulenbewegung und einer linken, einer politischen Bewegung?
„Eine ’natürliche‘ Verbindung gibt es nicht. Im Gegenteil. Jede Umwälzung bringt wieder neue Machtstrukturen, und die neuen Machthaber sind nicht davor gefeit, ihrerseits wieder andere Gruppen zu unterdrücken, auch wenn sie in ihrer Ideologie das Gegenteil propagieren.“
Eine schmerzliche Erfahrung ist es auch, dass Schwulsein bei der Linken eine Grenze sein kann und dass man nicht automatisch Solidarität findet.
„Überhaupt nicht. Besonders solange die linke Bewegung mehr oder weniger identisch war mit der Arbeiterbewegung *, kam es noch viel deutlicher zum Ausdruck, dass gerade in der Arbeiterschicht Schwulsein viel direkter und durchgehender diskriminiert wurde als in bestimmten höhern Schichten.“
Wo liegen die Gründe für diese Diskriminierung gerade durch Arbeiter?
„Wenn eine Klasse gegen eine andere protestiert, verinnerlicht sie gleichzeitig Bestandteile der Ideologie dieser herrschenden Klasse… Bei den Arbeitern, die ich kennengelernt habe, hatte ich immer den Eindruck, dass sie in einer solch labilen und bedrohten Situation leben, dass sie wenigstens sonst dazu gehören möchten, in der Art, wie sie sich anziehen, wie sie ihre Kinder erziehen.“
Das erinnert mich an die Diskussionen in der HA-Bewegung erst über die eingetragene Partnerschaft und dann die Ehe. 1983 hat die Bewegung die „heterosexuelle Familie“ in Luzern im See symbolisch zu Grabe getragen. In den 90ern wurden die bürgerlichen Schwulen, unterstützt von Lesben, aktiv in der Bewegung für die Zweierkiste und „alternative Familien“. Und heute gehört mann/frau mit der Ehe „dazu“.
Die haz-Leute fragen: Wie würde eine Gesellschaft aussehen, in der es keine sexuelle Repression mehr gäbe?
„Nicht viel anders als die unsere. Die Furcht, es falle alles auseinander und es gäbe keine Sitte und Ordnung mehr, ist bereits Bestandteil der Unterdrückungsideologie. Ich glaube, es gäbe nicht mehr und nicht weniger Schwule und Lesben als es jetzt gibt. Wilhelm Reich meinte, dass die sexuelle Befreiung eine Umwälzung der Gesellschaft mit sich bringen werde. Das ist nicht der Fall…
Man hat Hoffnung, dass die sexuelle Befreiung die Menschen zu gesellschaftlichen Veränderungen drängt – und merkt, dass das nicht stimmt. Sie werden aber vielleicht geeigneter, sich aufzulehnen.“
Ich weiss nicht, wie ich mir eine Gesellschaft vorstellen soll, in der ich mich aufgehoben fühle.
In der Regel hat ein männlicher Homosexueller in unserer Gesellschaft so viel von dieser Unterdrückung und nicht ganz offenen Diskriminierung verinnerlicht, dass er besonders in den Jahren der Jugend Spuren dieser Entwicklung mit sich herumschleppt. Die Homosexuellen, die ich behandelt habe, erlebten das wie einen angeborenen Defekt, wie einen Geburtsfehler, den man nicht los wird. Wenn die Analyse geglückt ist, hat sich dieses Gefühl auflösen lassen. Bei Juden aus nicht orthodoxen Familien habe ich dasselbe beobachtet. Auch sie erlebten ihr Jüdischsein als angeborenen Defekt. Aber ob man sich, wenn man dieses Gefühl weg hat, wohler fühlt in dieser Gesellschaft? – ich fühle mich hier gar nicht wohl…
Ich habe mich daran gewöhnt, dass ich mich nicht daran gewöhnen werde.“
Um mich wohl zu fühlen, brauche ich die Gelegenheit, die Welt zumindest gedanklich ein Stück durchdringen zu können.
„Das erste, was Sie erwähnen, ist meiner Meinung nach mit wenig Veränderung die Grundhaltung, die für Psychoanalytiker nötig ist: Der Wunsch, anderen zu helfen, müsste sich umwandeln in den Wunsch, die Dinge gründlichst zu verstehen. Aber das zweite, sich aufgehoben fühlen – ich weiss nicht, ich selbst habe dieses Gefühl auch nicht, in der Schweiz schon gar nicht. Viele suchen dieses Gefühl, indem sie sich Subkulturen gründen. Ich war immer viel zu neugierig, um mich einer solchen Subkultur anzuschliessen, und viel zu sperrig, um bei einer Partei dabei zu sein.“…
Wer genügend Mut hat oder seinen Mut auf Gleichgesinnte stützen kann, der kann heute hier bei uns ein einigermassen befriedigendes Sexualleben haben, auch wenn er homosexuell ist. Dass man angefeindet wird, kommt im Leben sowieso vor. (Hervorhebung PT)
Über die Aufgaben einer Schwulen- und Lesbenbewegung: „Und dann geht es auch darum, zum Beispiel mit solchen Veranstaltungen, wie sie jetzt im Juni in Zürich stattfinden, möglichst viele Leute anzusprechen und Propaganda für den Anspruch auf die Lebensrechte zu betreiben…
Und zweitens weil es ein ganz anderes Leben ist, wenn man aktiv an seinen Interessen arbeitet, als wenn man nur das Opfer ist und passiv erlebt, was alles einem für Knüppel zwischen die Beine oder auf den Kopf gehauen werden.“
Das vollständige Gespräch auf arcados.ch > Parin Paul 1989
Siehe auch das Gespräch von HAZ-Männern und Frauen im linken focus-Magazin aus Zürich (Juli/Aug 1973): „zwar schwul, aber ein guter Freisinniger“ auf arcados.com
* Siehe auch: Edouard Louis, ein subproletarischer Schwuler