Hugo Loetscher (1929-2009) ist ein schweizer Schriftsteller der Vorkriegsgenerationen. Er hätte mein Vater sein können. Er begann in den sechziger Jahren zu publizieren und bereiste später die halbe Welt, um zu entdecken, dass es jenseits des zürcher Sihlflusses noch andere Ufer gab. Vom „anderen Ufer“ berichtete er in seinem Roman „Der Immune“ (1975). Ich erfuhr sehr viel später davon, denn Loetscher war gar nicht als „homosexueller“ Schriftsteller bekannt.
„getabstract.com“ bietet eine Zusammenfassung dieses Romans, worin Loetscher erstmals von der Weltläufigkeit seines Denkens und Lebens erzählt. „In seinem quasi autobiografischen Hauptwerk blickt der Zürcher Autor und Kosmopolit Hugo Loetscher auf sein Leben als Journalist zurück. Der Immune, die Hauptfigur des Romans, leidet an seiner Überempfindlichkeit und versucht sich abzuhärten, indem er sich allen möglichen Situationen, auch den unangenehmsten, schonungslos aussetzt.“
Das kommt mir irgendwie bekannt vor! Viele Homosexuelle versuchen, sich abzuhärten, mittels zusätzlicher Leistungen, die sie erbringen, grösserer Krativität – aber auch grösserer Destruktivität und Dekonstruktivität ihrer eigenen Persönlichkeit. Vor allem wenn ich an die letzten Jungautoren denke, deren Leben ohne Drogen und HIV nicht zu beschreiben wäre.
„Der Waschküchenschlüssel“ (1973) blickt eindringlich auf Schweizerische Eigenheiten und wie ein Junggeselle in dieser Waschküchenordnung ein heilloses Durcheinander erzielt.
Loetschers letztes Buch erschien einige Tage nach seinem Tod. Anlass genug für mich, in seinen Lebenserinnerungen zu lesen. Ich erwartete nichts „schwules“ von ihm. Lediglich einige Skurrilitäten eines Junggesellenlebens eben. Eines bürgerlich-anerkannten Philosophen, Journalisten, Kulturkritiker und Schriftstellers. Ich las das Buch mit Unterbrüchen über ein halbes Jahr. Das Leben ist kein Trip, kein Orgasmus und auch kein Paradies. Es hat seine Langweiligkeiten und Längen, wie dieses Buch auch. Aber es überraschte mit einigen Rosinen und Erdbeeren, für die es sich für mich gelohnt hat, Zeit mit ihm zu verbringen.
Damit in der Hektik des „heterosexuellen Literaturbetriebes“ die rosa Gedanken Loetschers aus diesem Buch nicht verloren gehen mögen, zitiere ich sie für Euch!
„Da dringt das Sonnenlicht in den Regentropfen ein und bricht; an der Innenwand des Tropfens wird ein Teil des Lichtes reflektiert; unter nochmaliger Brechung tritt das Licht aus dem Tropfen, und das weisse Licht wird in seine Farbkomponenten zerlegt.
Ob auch ein Mensch erst Farbe bekennt, wenn er mehrfach gebrochen wird?
Doch dann sah ich die Regenbogenfarben nicht an einem Himmel, an dem sie erlöschen, sondern auf einer Flagge. Die weht von Balkonen, Strassenlaternen, Brückengeländern, Haltestellen, wurde als Kopftuch und Umgang getragen – es war die Fahne der Homosexuellen, welche mit ihr ein öffentliches Bekenntnis ablegten, stolz der Tag, stolz die Woche, stolz die Parade. Die Farbpalette stand dafür, dass unterschiedliche Menschen sich zusammenfinden: die Roten, die Orangen, die Gelben, die Blauen, die Grünen und auch diejenigen, die lila sind.“ (S. 33-34)
(Über die Homoszene in Zürich nach dem Krieg) „Ein Programm anderer Art bot das einzige schwule Nachtlokal. Da schlenderte nicht nur ich an der Türe vorbei, noch eine Kehrtwendung, sich vergewissernd, wer herumstand, bevor man eintrat. Es wurde geflüstert: die, die solche Lokale aufsuchen, werden von der Polizei registriert. Drinnen vernahm man Genaueres. Verschärfte Kontrolle der Pissoirs. In Paris soll verboten werden, dass Männer miteinander tanzen. Die Amerikaner glauben nicht an den Kinsey-Report, so viel Prozent können es nicht sein, die derartige Erfahrungen eingestehen. An der Wand die Reproduktion von Ganymed, entführt vom Adler, und im Himmel erwartungsvoll Zeus, für „Menschen unserer Art“, Gruppenbilder von Heiligabend im Klublokal, „damit im Schein der Kerzen Weihnachten nicht ein Fest der Einsamen ist“. Einer überredet den Typen neben ihm, den Arm auf seiner Schulter: „Auch Shakespeare war so und erst Michalangelo“. Worauf einer aus einer dunklen Ecke kommentiert: „Schwul ist nicht abendfüllend. Vielleicht reicht’s für eine Nacht. Es ist nicht alles schwul, was glänzt.“ Ein rauchgeschwängertes Gedränge, so dass sich nicht nur von Barstuhl zu Barstuhl Schenkel an Schenkel presst.“ (S. 65)
„Was aber, wenn das Ufer, von dem ich komme, nicht das jenseitige Ufer der Sihl ist, wenn es eine andere Art Ufer ist, eines, das jenseits der gängigen Moralität liegt – was, wenn ich nicht liebe, wie diese die Majorität tut.
Ich war zu unzähligen Ufern unterwegs, die anders sind. Dabei hat mich gelegentlich der Reiseführer begleitet, der Auskunft gab: In welchem Land steht auf Homosexualität die Todesstrafe, und in welchem kann man „wegen Zuwiderhandlung gegen den Anstand“ zu Zwangsarbeit verurteilt werden. Wo wurde die Gesetzgebung liberalisiert und wo ist Diskriminierung strafbar – ja, und wie hoch ist das Schutzalter, nicht unwichtig, ob dabei Geld mit im Spiel ist.
Einschlägige Tipps für diesen Ort oder jene Stadt, nicht nur für Hotels oder guesthouses. Adressen von Bars und Clubs, in denen sich eher Ältere und Bärtige treffen, wo Studenten und Pornostars zusammenkommen, oder wo Stricher ihre Dienste offerieren. Aufgelistet, was empfohlen wird an Diskothek und Darkroom, was den Lederfetischisten oder den Liebhaber von gogo boys erwartet. Ob Strip oder Tabledance. Was an Dresscode respektiert werden muss: Leder, blue jeans oder military look. Hat das Kino eine Grossleinwand, oder nur Kabinen? Welche Sauna wartet mit „bösen Buben“ auf, die Sado bieten, oder massieren einfach Männer Männer, und werden mit der Eintrittskarte auch Kondome abgegeben? Hinweise auf Spezialevents wie Transvestiten-Show oder Unterwäsche-Partys. Welcher escort service ist europa- und weltweit zu empfehlen, und weshalb gilt diese Bahnhofs- oder jene Parkbekanntschaft nach Eindunkeln als gefährlich? Und natürlich die Nummer für das Überfalltelefon oder die Aidshilfe.
Wo aber war ich nicht überall dabei, ohne anwesend zu sein. Zum Beispiel als einer, weil er einem Mann beigewohnt hatte, rücklings von einem Felsen gestürzt wurde, worauf einer im Namen Jahwes den ersten Stein warf und ein zweiter den zweiten, bis die ganze Gemeinde steinigte.
Stand ich nicht oben an einer andern Grube. Beide, in flagranti ertappt, waren eingegraben bis zur Hüfte. Am lautesten johlte der neben mir, als er, Allah ist gross, mit seinem Wurf den Kopf des einen traf; er hielt den nächsten Stein zur Kontrolle hin, der durfte nicht grösser als seine Hand sein. Das war vorgeschrieben, um den Tod hinauszuzögern.
Und was für ein Auflauf an Schaulustigen, als ein Sodomit vom Gerichtsdiener aufs Rad geflochten und auf den brennenden Holzstoss geschoben wurde. Der Schrei des Verurteilten ging unter in der Litanei, die die Gerechtigkeit der Heiligen pries: ein christliches ora pro nobis.
Hätte ich nicht auch angestanden, um den amerikanischen Ex-Kombattanten im Gefängnis zu besuchen, auch wenn nur ein kurzes Gespräch durch eine Trennscheibe hindurch toleriert worden wäre? Hinter dem Glas der Sergeant, der vor seinen Richtern bekannte: „Ich habe im Vietnamkrieg einen Mann getötet und wurde dafür ausgezeichnet, ich habe in den USA einen Mann geküsst, dafür kam ich ins Gefängnis.“
Haben Eier und Tomaten nicht auch mich getroffen, obwohl ich nicht mitmarschierte bei den Pride-Paraden – ob in Moskau oder Bukarest, oder sonst wo. Auch mir haben sie ein Transparent entrissen. Auch auf mich, der ich vor dem Bildschirm sass, haben bekennende Patrioten und militante Christen eingeschlagen, für einmal war ich froh um die Wasserspeier der Polizei.
Zu einem Drink aber habe ich live eingeladen (frag auch den Jungen in der Ecke, was er mag, den mit den zerschlissenen Jeans und der Schirmmütze im Gesicht). Im Stonewall an der Christopher Street im New Yorker Greenwich Village. Hier, in diesem Szenetreff, trank ich auf die gays, die eines Nachts die Polizei nicht mehr hinnahmen. Die Polizisten verhafteten schon wegen eines Kusses oder wegen Händchenhaltens und nahmen sic mit höhnender Vorliebe Transvestiten vor. Die Gays schlugen zurück, nicht mehr nur Schwarze und Hispanics. Ein paar tausend gegen ein paar hundert Polizisten. Flaschen und Steine gegen Gummigeschosse und Knüppel. Nicht bloss Handgemenge, sondern Tumult und Aufruhr. Drei Tage Rebellion – gay power.
Das war etwas anderes als die Razzien im Nachkriegs-Zürich mit seinem Schwulenregister. Wegen der Homosexuellen würden sich Geschlechtskrankheiten ausbreiten. Daher Verhaftungen und Zwangsuntersuchungen. Ein lokales Kapitel der Brunnenvergiftung, das sich wiederholte, als Aids als Schwulenepidemie diffamiert wurde. Bis die Immunschwäche international auf die Hetero-Agenda kam und afrikanische Heime sich mit Aids-Waisen füllten.“ (S. 188-190, Auszug aus einem vieles übergreifenden Homo-Thema-Kapitel, bis S. 208)
„Das Café Pierre Loti gibt es noch. Nur dass jetzt eine Schwebebahn zur Eyüp-Sultan-Moschee hinunterführt. Damals stieg ich zu Fuss den Hügel hina, strekcenweise auf einem Trampelpfad, durch den Friedhof, der sich den Hang entlangzieht. Unter alten Zypressen blumenlose Gräber, manche mit hohem Gras überwachsen. Mit Blüten und Muscheln verziert die Grabplatten der Frauen, die Stelen der Männer mit einem Turbanmotiv gekrönt, der schiefe Turban ein Zeichen, dass der Tote geköpft worden war. Ich versuchte, einem Alten auszuweichen, der sich mir in den Weg stellte. Ein struppiges Gesicht, der Mund fast zahnlos, als Gürtel eine Schnur, die Hose ausgefranst, barfuss, das eine Bein nachschleppend. Schliesslich folge ich ihm in seine Behausung, eine Unterschlupfhöhle mit einer Grabplatte als Dach. Die Matratze zerschlissen, ein paar Kerzenstummel, auf dem Boden ein angeschlagenes Emailbecken. Er hinkte in eine Ecke und holte hinter abgegessenen Melonenschalen etwas hervor, streckte es mir hin: „Ich war damals ein Junge. Von Pierre. Von Loti.“ Ein Roman des französischen Schriftstellers, der in jenem Café viel geschrieben hat und sich gern mit Jungen umgab. Das Buch in rotes Leder gebunden, mit Goldschnitt. Der Mann, der mir zum Abschied die offene Hand hinhielt, bettelte nicht, er verkaufte eine Erinnerung.“ (S. 172-173)
Ist es nicht faszinierend, wie ein Schriftsteller seine Erinnerungen weitergibt? Wie er wiederum sich an die Erinnerungen Anderer erinnert? Wie ein ganz normaler bürgerlicher Schriftsteller sich an Geschichte und Subkultur anheftet, sich mit ihr identifiziert und auch ein Teil von ihr ist, wiewohl er zu den Tatzeiten abwesend war? Und über welche Symbole er sich mit Anderen verbunden fühlt. Peter Thommen (61)
Hugo Loetscher. War meine zeit meine zeit, 410 S. Diogenes 2009, € 21.90, ca. CHF 36.-
Loetscher, War meine Zeit meine Zeit, diog
Roman Bucheli: Ein letzte, lange Liebeserklärung, NZZ 2009
Pierre Loti (1850-1923), französischer Schriftsteller, erwähnt von Hugo Loetscher
Lieber Peter,
ja Hugo Lötscher war auch ein Freund meines Vaters, doch
hat mir dies nicht viel geholfen. Mehr als einen Sex Partner zu
haben ist trotz dem nicht erlaubt, nach dem Glauben meiner
lieben Eltern.
Mit vielen lieben Grüssen, Markus