Die „Grosse“ hat die kleinen „Schwestern“ schon immer fasziniert. Die Stadt hat etwas lebensmagisches für schwule Männer vom Land. Seine grosse Schwester guckt dem Autor auch die ganze Zeit über die Schulter. Die Kindheit von Junghomos ist in einer grossen Stadt wie Zürich nicht so leicht abzuschütteln wie die Flasche für einen Geist.
Simon Froehling gibt uns mit „Lange Nächte Tag“ einen Erzähltext und einen scharfen Einblick in die Gedärme heutiger Leidenschaften zwischen jungen Männern. Die Erzählung ist verwirrend am Anfang, aber bald spielt es keine Rolle mehr, ob er vom Einen, oder aus der Sicht seines Liebhabers schreibt, oder ob er über beide nur phantasiert hat. Die Leidenschaft ist das Lebenselixier des Schwulseins und muss immer mit Reue bezahlt werden. Das Wahre, der grosse Mann fürs Leben, den wir schon als Kind erahnt haben, sowie Auftritte in Szenen – virtuell und real – um uns zu schmeicheln, oder Andere emotional abzustrafen, gehören wohl seit Oscar Wilde zu den schwulen Attitüden. Am Schluss deckt der morbide Schnee wieder alles zu und verzeiht grosszügig, wie in den Kinderbüchern auch.
Patrick und Jiri, die beiden Protagonisten werden aus ihrem Leben gerissen, indem sie sich gegenseitig ein Universum eröffnen wollen, aber nicht können. Schon den Schlüssel hingelegt, noch nicht emotional abgefahren und schon miteinander verkettet. Noch halb in den blauen Seiten und doch schon mit ihm beim Konzert von Nachbar Albert im sonnengefluteten Hinterhof.
Wer sich auf Simons Text einlässt, der wird in eine Spalte blicken, wo Sperma, Speichel und Alkohol sich mischen und Erinnerungsfetzen über den Himmel ziehen. Escher-Wyss-Platz. Die Bar mit dem gläsernen Auge. Das Grossraumbüro mit den Computern. Romantische Winkel in der Altstadt. Simon verwebt es gekonnt. Da drin werkelt das Schicksal im Auftrag Gottes – oder umgekehrt? Oder spielen Schwule vielleicht gar selber lieber Master of the Gay Universe, auch wenn sie immer die kleinen Würstchen bleiben?
Als ich Froehlings Text las, tauchten in mir Bilder aus den Büchern anderer Autoren wieder auf. Genet und seine Zeit mit Gaunern, Randexistenzen und Gefängnissen. Guido Bachmann mit seiner Jungenliebe in Bern, die seltsam entrückt in den Leidenschaften, sich auf Mythen der Urzeit berief und dann Martin Franks „Ter Fögi isch e Souhung“ (Der F. ist ein Kinderverderber) mit seiner Band-Szene und den 70er Jahren.
Schon Genet war ein Medium sadomasochistischer Szenen und Leidenschaften. Bachmann entging dem in den 60ern ebenso wenig, wie Frank in den 70ern. Dieser Sadomasochismus in vielen Formen begleitet die neuere Literatur über Männerbeziehungen bis heute.
Haben wir nichts „gelernt“? Sind wir immer noch hetero-verkettet in hetero Leidenschaften? Auch als Männer? Auch ich bin natürlich nicht darum herumgekommen. Aber irgendwann mal hatte ich genug davon. Aus dem Unverständnis von Gilgamesch ist ein sich wehren gegen solche Symbiosen geworden, das sich mit 35 Jahren zum letzten Mal in mir aufbäumte. Meine letzte grosse Liebe, die ich in einer Art Tagebuch verarbeitete.
Wo bleibt die Leichtigkeit einer Männerliebe bis heute? Ist sie in den Pornos verschwunden? Da wo alles stimmt? Oder ist sie noch immer zu entdecken?
Für mich schrieb Simon eine faszinierende Erzählung aus seinem Leben. Aus dem schwulen Leben von Zürich sicher auch. Gerne würde ich mehr erfahren! Auch von anderen Autoren.
Hinter und vor den blauen Seiten hat es viel Word und Bites. An die Tasten Jungs!
Peter Thommen, schwuler Buchhändler (60), Basel
Simon Froehling: Lange Nächte Tag, Bilgerverlag 2011, 196 S. CHF 34.-
Pingback: warum bin ich kein “barebacker”? « Thommens Senf 2010