Ich habe über dreissig Jahre lang meine Kunden dabei beobachten können, wie sie sich einem Buch annähern – oder auch den Magazinen und den DVDs.
Grundsätzlich – und unabhängig vom Alter – durchstreifen Männer, die auf Männer aus sind, die heterosexuellen Welten und Medien, um irgendwo auf ein Bild, einen Text oder eine Information zu stossen, die sie „verwenden“ könnten. Ausgeprägt war das zu Zeiten, als es „schwule“ Postkarten gab. Da haben eifrige Sammler alle möglichen Läden abgeklappert, um zu diesen Objekten in der so praktischen Grösse zu kommen.
In der heterosexuellen Wüste etwas Wasser finden, um sich zu erquicken, oder eine schöne Erinnerung, ein schönes Bild, das man mit nach Hause nehmen kann, um es zu besitzen. Selbst in Lokalen mit anderen Schwulen, oder mit einem Medienangebot, das sich speziell an sie richtet, pflegen Schwule wie in einem Warenhaus zu wandeln. Der kurze Überblick beim Eintreten verrät den Kenner: Diese habe ich schon gehabt, jene sind zu tuntig, zu alt oder zu jung, aber – „für mich“ sollte es doch auch etwas geben!
So läuft es auf den ständig wechselnden Parties auch. Je grösser die Auswahl, desto höher die Chance, auf „den Richtigen“ zu stossen? Ich kannte Schwule, die sich schon früher nicht mit einer „Szene“ begnügten. Sie „machten“ die Badeanstalten, die Klappen, die öffentlichen Plätze unsicher, um Heteros aufzugabeln, die noch kein anderer Schwuler vor ihnen gehabt hatte. Der Schwulen waren ihnen zu wenige…
Noch jede Generation hat diese Verhaltensweise übernommen – bis zum heutigen Tag! Der entscheidende Punkt aber ist, wann dieses „Beuteraster“ aufgegeben wird – aufgegeben werden muss, zugunsten echter menschlicher Neugier auf ein interessantes Gegenüber, auf eine Überraschung in der Persönlichkeit, die nicht schon von vornherein – nur das eine hinten hinein – oder vorneherum das Ritual festlegt, das einem ein Lustobjekt, oder einen Fetisch zum Geniessen zuführt. Wo nicht der augenblickliche Erfolg befriedigt, sondern wo ein Bewusstsein für Community, oder für Entdeckung und Überraschung für etwas ganz anderes, einen zum Ausgehen treibt.
Ich vergleiche das gerne mit einem Kreuzworträtsel, das eigentlich immer die gleichen Wörter in neuer Kombination erraten lässt. Erfolg durch Übung und Gewohnheit ist garantiert. Das Spiel, das auch die Heteros mit den Frauen spielen…
Dagegen ist ein Buch etwas ganz anderes!
Es muss entdeckt, erfühlt, erlesen werden – und mit ausdauern der Erwartungen. So wie es – heute – mit „realen“ Personen nur selten noch geschieht. Doch diesen Aufwand zu betreiben, dazu sind Junghomos immer seltener bereit. Entweder sofort alles – mit Heiratsversprechen und eing. Partnerschaft – oder dann gar nichts, oder nur um irgendeines hohen Zugeständnisses wille – oder nur den Quickie der nichts kostet. Bananen sind eine objektive Grösse, die allen als süss und sättigend empfohlen werden können. Aber ein Buch erschliesst seine Qualität erst mit dem realen Lesen. Und wie im Leben, ist der Erfolg eben nicht im voraus garantiert. Oder er ist ganz anders als erwartet.
Auch ich bin manchmal mit meinen Empfehlungen daneben. Aber das sehe ich erst hinterher, wenn der Leser (falls er) wiederkommt und mir ein Echo gibt. Aber dann hat er das Buch schon gelesen und bezahlt – auf MEIN Risiko natürlich! 😉
Ganz einfach machen es sich Leser mit der wichtigtuerischen Frage: „Muss man das gelesen haben?“ So wie ein Spiessbürger fragt, ob er diesen oder jenen unbedingt kennen sollte, weil es für ihn Vorteile bringt – welche Leute das sind, das ist ihm vorab egal.
Keiner kann alle Bücher „vorher“ lesen, um dann zu wissen, was er „nachher“ hätte gelesen haben müssen! Diesen Umstand machen sich zB Buchversandfirmen zu nutze, indem sie einfach die Werbetexte von Verlagen übernehmen – für die sie ja nicht verantwortlich gemacht werden können – und das Risiko den Käufern zuschieben. Auch der Hinweis auf Bücher, die von Käufern „auch noch“ bestellt wurden, ist nutzlos, denn vielleicht hat er diese gar nicht für sich selbst bestellt. Da ist guter Rat teuer – im doppelten Sinne.
Mit den Büchern ist es wie mit den Menschen. Keiner ist für alle empfehlenswert und doch kann er diesem und jenem etwas bringen. Das geht nur durch reale Erfahrungen und deren Tausch. Durch Gespräche und Argumente. Werbung ist wie Partyklatsch und Kritiken wie üble Nachrede. Was dem einen auf den Leib geschrieben ist, ist für einen Anderen wie Klopapier. In Bananen kann man einfach hinein beissen und weiss sofort, ob sie süss und appetitlich sind.
Ein Buchladen ist kein Warenhaus, das man „er – leben“ und wo man einfach nur wählen kann – aus tausend Dingen, die jedem etwas bringen. Schon oft hatte ich die Fantasie, eine Turnhalle zu mieten und ein paar Lastwagen mit Pornos darin abzuladen. Dann Schwule darin einzuschliessen und sie wühlen zu lassen. Ganz bestimmt würden sie erst aufmerken, wenn sie auch das unterste Bild im grossen Haufen endlich haben sehen können! 😉
Es gibt Leute, die treten in meinen Laden ein, fangen links unten bei der Türe an und hören erst wieder rechts oben vor dem Ausgang auf. Sie kommen still und gehen – meistens fragenden Gesichtes – wieder hinaus. Da war leider nichts zu finden, das sie angelacht, oder angemacht hätte. Dabei vermitteln solche oft das Gefühl, als hätten sie ein Recht auf etwas, das sie selber nicht zu wissen glauben, aber von Anderen erwarten dürften.
Nicht jeder mag angesprochen und gefragt werden. Aber wenn er denn nur preisgibt, was er vorher gelesen und ob es ihm gefallen hat, dann ist da schon ein Weg zu anderen oder ähnlichen Büchern vorgespurt. Ob einer „vorher“ überhaupt etwas gelesen hatte? Mir kommt es auch immer wie ein Abenteuer vor! Hat einer alles angeguckt und steht enttäuscht vor dem Regal. Dann wag ich, ihn zu fragen. Und manchmal hat einer letztlich mit mir zusammen zu einem Text gefunden, den er gar nicht gesucht hatte.
Doch wie soll sich ein Gespräch entwickeln, wenn die Kommunikation gestört und das Abenteuer nur im Beutemachen zu finden ist? Wie ist ein Mensch zum Reden zu bringen, so dass er wiederum und seinerseits davon profitieren kann? Es ist bei Büchern und Menschen gleich: Nicht immer ist drin, was draufsteht!
Da erinnere ich mich nostalgisch an die Anfänge im Elletlui, wo der Barman mit allen sprach und nebst dem Getränk auch noch seine Wünsche nach und nach erfahren hat. Gar mancher Gast ist da vermittelt worden und ist am Ende des Drinks zu zweit hinausgegangen. Und manchmal geht ein Kunde auch mit zwei oder drei Büchern wieder zum Laden hinaus, weil ich – zufällig – von ihm erfahren habe, welcher Art von Leselust sein „Fetisch“ ist! Die Freude verdoppelt sich.
Doch ich fürchte, diese Bereitschaft – und die Fähigkeit dazu, nehmen nur ab. Und die „Therapie“ des Buchhändlers wird endlich durch die Werbung völlig ersetzt. Das Buch prostituiert sich selbst an seine Leser. So wie es die Menschen schon lange gegenseitig tun.
Peter Thommen, Buchhändler_62