Schwule und Lesben in Bewegung

„Der jahrzehntelange Separatismus hat auf beiden Seiten tiefe Spuren hinterlassen, denn das gegenseitige Verhältnis war und ist teilweise heute noch von Unwissen, Misstrauen und Desinteresse geprägt. Die Lesben- und Schwulenbewegungen entwickelten sich seit den 70er Jahren überwiegend getrennt. Dabei spielten auch die negativen Erfahrungen, die Lesben mit Schwulen gemacht hatten, eine Rolle. Entscheidend war jedoch, dass sich die Lesben überwiegend der Frauenbewegung zugehörig fühlten und es als Feministinnen vorzogen, sich mit heterosexuellen Frauen und anderen Lesben zusammenzuschliessen.“ Dorothee Winden, Dieter Telge (1, S. 11)

(Schwule konnten sich keiner Männerbewegung zugehörig fühlen und haben auch negative Erfahrungen mit Lesben gemacht. P.Th.)

„Anfang der siebziger Jahre gehörten der Berliner Homosexuellen Aktion West auch einige Lesben an, die sich selbst zunächst als schwule Frauen bezeichneten. Die 1972 gegründete „schwule Frauengruppe“ der HAW bezog mit den Schwulen ein gemeinsames Zentrum. Aktionen und Auftritte in den Medien wurden gemeinsam organisiert und durchgeführt. Doch bald fühlten sich die Lesben unterdrückt. In den gemeinsamen Diskussionen kamen Frauen kaum zu Wort oder drangen mit ihren Argumenten und Bedürfnissen nicht durch. Im Sommer 1974 kam es zur Trennung. Die Frauen gründeten das Lesbische Aktionszentrum (LAZ). “ Dorothee Winden, Dieter Telge (1, S. 11)

Die gleiche Dynamik findet sich auch Anfangs der 70er Jahre bei den Homosexuellen Arbeitsgruppen Zürich und der HACH. Frauen gründeten die HFZ, Homosexuelle Frauengruppe Zürich. (Ich erlebte deren ‚Auszug‘. P.Th.)

„Die Struktur unserer politischen Forderungen: Schwule, die ein Teil des Ganzen werden wollen; Lesben, für die das Ganze nur die Hälfte ist? Die promiske Sexualität schwuler Männer? Die monogamen Beziehungen lesbischer Frauen? Oder sind auch das nur Klischees?“ (Stefan Etgeton und Sabine Hark)  (1, S.  8)

„Es gibt in Berlin bislang (1997) kein einziges Lesbenprojekt, das für Schwule zugänglich ist, aber eine Reihe schwuler Projekte, die sich für Lesben geöffnet haben. Dieses Ungleichgewicht führte in der Schwulenszene zu dem Vorurteil: Wir bauen etwas auf und dann kommen die Lesben und fordern die Hälfte.

Umgekehrt beklagen Lesben häufig die schwule Dominanz bei gemeinsamen Vorhaben, die sich vor allem aufgrund der geschlechtsspezifischen Sozialisation ergibt. Während Lesben als Frauen doppelt benachteiligt sind, profitieren Schwule immerhin von ihrer gesellschaftlichen Position als Männer – die sie aber häufig weder erkennen, noch hinterfragen.“ Dorothee Winden, Dieter Telge (1, S. 13)

Interessant ist, dass Lesben die soziale Situation von sichtbaren Schwulen völlig ignorieren oder übersehen! Sie gehen davon aus, dass Schwule in der Gesellschaft draussen unsichtbar seien und dann automatisch als hetero Männer gelten würden. Soziologisch sind „sichtbare“ Schwule aber die ersten Opfer von Angriffen heterosexueller Männer und auch übrigens heterosexuellen Frauen! Zudem richtet sich die legislative Gewalt (Gesetze) zuerst gegen Schwule und das schon in der Bibel. Denn da können Frauen sich nicht gegenseitig zu „Frauen machen“, indem sie sich penetrieren („wie bei einem Weibe“). Indes haben Frauen generell einen erweiterten „Verhaltensspielraum“ in der Gesellschaft, den Männer und Schwule noch nicht so nützen können. Frauen sind primär „anders diskriminiert“, nicht doppelt! (Schwule werden in dem Sinne doppelt diskriminiert, denn sie „könnten ja richtige Männer sein“, aber sie WOLLEN es nur nicht. Frauen sind ja schon Frauen, sie könnten gar nie Männer sein…  Ich kann nur empfehlen, diese Verhältnisse genauer anzuschauen und abzuklopfen und auch die Gender-Historie einzubeziehen!

Was die Katastrophe mit AIDS betrifft, so haben wir in Basel nur wenig bis keine Solidarität von Lesben erfahren. Sie wollten im Schwulen- und Lesbenzentrum damals keine Kondomplakate ansehen müssen… (In den USA war das genau umgekehrt, da sind die Lesben sehr solidarisch und aktiv gewesen!) Ausserdem fühlten sie sich in ihrem „Frauensex“ davon nicht betroffen… P. Th.

Die Pädo-Frage ist eine Sollbruchstelle zwischen Lesben und Schwulen. Sie ist auf beiden Seiten von hohem symbolischen und emotionalen Wert. Zwei Güter stehen gegeneinander: Toleranz und Solidarität versus Schutz und Unversehrtheit von Kindern.

Davon ausgehend sind die Standpunkte von Lesben und Schwulen in der Pädo-Debatte höchst unterschiedlich. Schwule fordern oft ein nicht näher hinterfragtes Recht auf freie Entfaltung einvernehmlicher Sexualität ein. Dagegen betont die feministische Kritik das Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern, sowie das daraus entstehende Abhängigkeitsverhältnis.“ Dorothee Winden, Dieter Telge (1, S. 19)

Auch hier wird nicht genau hingeschaut! Soll mir keine Frau sagen, es gäbe keine sexuellen Kontakte mit Mädchen und Knaben. Sie werden einfach totgeschwiegen und ausgeblendet, vor allem in Pflegesituationen. Das gibt eine gerne öffentlich genutzte Vorzugssituation gegenüber Schwulen, trifft aber nicht den Kern! (siehe die aus dem US-amerikanischen übersetzte Studie der Herausgeberin Michele Elliott aus den 90ern!)

Ich habe mich intensiv mit dem „p-Wort“ und seinen Folgen für Jungs und Männer auseinandergesetzt und erinnere immer wieder daran, dass das Schutzalter für homosexuelle Kontakte von 1942-1992 bei 20 Jahren lag (auch für Lesben, aber das interessierte keineN!). Heterosexuelle Frauen durften sich schon damals mit Knaben und Männer  mit Mädchen ab 16 Jahren vergnügen. 

Ich habe gelernt, dass Mädchen und Frauen sehr extrem sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind. Vor allem in der heterosexuellen Kultur müssen Mädchen fast das ganze Leben lang „Mädchen“ spielen und werden auch vielfältig so bezeichnet (Lehrtochter, Serviertochter u.a.) So liegt das Problem vor allem in der Heterosexualität/Kultur! Ausserdem sind Übergriffe leicht in hierarchischen Institutionen wie Familie, Schule, Internat, Kirche und Firmen vorzunehmen. Sie haben nicht unmittelbar mit der sexuellen Orientierung zu tun. Dies wird aber immer schutz-behauptet! Ich beschränke mich nun auf die Männer/Schwulen:

Während Mädchen in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung zu ihrer Mutter aufwachsen, müssen Knaben und Schwule durch die heterosexuelle Beziehung mit ihr hindurch! Die „rätselhaften Botschaften“, die von ihr ausgehen, müssen interpretiert und eingeordnet werden. (Siehe dazu auch Elisabeth Badinter!)  –  Väter, die „Mütterarbeit- oder -funktionen“ übernehmen müssen sich zunehmend auch damit auseinandersetzen! Auch mit ihrem gleichgeschlechtlichen Verhältnis zu Söhnen. (laut Judith Butler wird das HS-Tabu vor dem Inzesttabu „gesetzt“.)

Aus unerforschten Gründen haben Knaben im Bereich ihrer gleichgeschlechtlichen Bedürfnisse Erinnerungen an „rätselhafte Botschaften“ aus ihrer Kindheit, die sie aber oft erst „nachträglich“ verarbeiten müssen oder können! Sie suchen zwar „vorwärtsliebend“ Kontakte, sind aber auch „rückwärts-liebend“ von Jüngeren als (alter ego-)Spiegelbild fasziniert. Es hat sich bisher gezeigt, dass Schwule oft auch in Jugendgruppen „überhocken“ und – selbst älter werdend – sich nur schlecht aus dieser Altersspanne lösen können. (Drum wurde die Obergrenze 25 Jahre eingeführt!)

Dominique Fernandez hat in seiner „Kulturgeschichte der Homosexualität“ (Männer) festgestellt, dass die Natur gleichgeschlechtlich orientiert sei und die Fortpflanzung eine kulturelle Errungenschaft. (2) In einem Gespräch mit meiner Schwester über Selbstmordfälle von Kindern und Jugendlichen wegen Homosexualität, die in mir jeweils akute Trauerreaktionen auslösen, hat diese mir erklärt, ich würde jeweils über mich selber Tränen vergiessen. Das war mir nie bewusst gewesen. Es geht vor allem darum, die Zusammenhänge zu verstehen, um dann damit umgehen zu können, statt gesellschaftsjuristisch und -politisch mit dem „heterosexuell aufgeladenen p-Wort“ um sich zu werfen. (Anwalt Valentin Landmann (ZH) sagte einmal, er verteidige nie eine Tat, aber immer einen Menschen.

Peter Thommen_67, Schwulenaktivist, Basel

Zur Kulturgeschichte von Homosexuellen: Peter Gay: Die zarte Leidenschaft. Liebe im bürgerlichen Zeitalter, engl. 1986, Oxfort UPr / dt. Siedler 1987
(S. 63, Problematische Bindungen, S. 204-262)

1  Freundschaft unter Vorbehalt, (hg. von Stefan Etgeton und Sabine Hark) Quer 1997

2  Dominique Fernandez: Der Raub des Ganymed 1989, dt Beck&Glückler 1992 (im Antiquariat)