« …sondern die Situation in der er lebt!»
Rosa von Praunheims Film von 1971 muss in die heutige Zeit „übersetzt“ werden. Es wäre fahrlässig, ihn ohne Begleitinformationen einem ahnungslosen Publikum zu zeigen. Die Inszenierung schwulen Lebens in jenen Jahren enthält doppeldeutige Aussagen: Sie hält den Schwulen einen Spiegel vor und rapportiert gleichzeitig die schlimmsten Vorurteile Heterosexueller. Damalige Zuschauer sollten schockiert und aufgerüttelt werden und gleichzeitig wurde zur Änderung der misslichen Situation aufgerufen!
„Schwule wollen nicht schwul sein. Sie wollen nicht anders sein, sondern so spiessig und kitschig leben wie der Durchschnittsbürger. Sie sehnen sich nach einem trauten Heim, in dem sie mit einem unauffälligen und treuen Freund ein eheähnliches Verhältnis eingehen können. Der ideale Partner muss sauber, ehrlich und natürlich sein. Ein unverdorbener frischer Junge, so lieb und verspielt wie ein Schäferhund. Schwule fordern von Schwulen, Aestheten zu sein. Er muss auf sein Aeusseres Wert legen, darauf sind sie stolz und das zeichnet sie aus vor allen Anderen.
Da die Schwulen vom Spiesser als krank und minderwertig verachtet werden, versuchen sie, noch spiessiger zu werden, um ihr Schuldgefühl abzutragen mit einem Uebermass an bürgerlichen Tugenden. Sie sind politisch passiv und verhalten sich konservativ. Als Dank dafür, dass sie nicht totgeschlagen werden. Nicht die Homosexuellen sind pervers, sondern die Situation in der sie zu leben haben.“ (Zitat aus dem Film)
Die deutsche Gesellschaft stand 26 Jahre nach dem Ende von Diktatur und Verfolgung von Minderheiten, nach einem Krieg mit zerstörter Infrastruktur und Ruinen, vor einer Zukunft mit ungeahnten wirtschaftlichen Möglichkeiten. Berlin bot Schwulen trotz politischer Teilung (Insel) vielfältige Kontakte und berufliche Möglichkeiten in der Anonymität einer Millionenstadt. In der „besonderen politischen Einheit“ Westberlin mussten die Einwohner zudem keinen Militärdienst leisten.
Ich habe mir den Film im Juni 2022 noch einmal angesehen. Es beginnt mit der damals typischen Zufallsbekanntschaft mitten im Leben. Einige hatten ihr „Schwulenradar“ andere wurden durch unbewusste Wünsche „geleitet“. Praunheim inszeniert diese ersten Kontakte „einer grossen Liebe“ genauso, wie Heterosexuelle sie sich vorstellen (und woran Schwule auch glauben), einfach zwischen zwei Männern. Wichtig ist der Wechsel eines jungen Schwulen vom Land in die Stadt.
„Eine homosexuelle Freundschaft, so heiss sie auch von beiden Partnern ersehnt wird, muss zwangsläufig schief gehen. Schwule sind gezwungen, ihre Freundschaften in krimineller Heimlichkeiten, ohne Vorspiel über das Bett zu beginnen. Reiner Sex sieht vom Partner und seinen individuellen Voraussetzungen ab. Er interessiert nur als Objekt der eigenen Geilheit und im günstigsten Falle ist dieses Verhältnis ein gegenseitiges. Es reicht nicht aus, eine befriedigende Beziehung zwischen zwei Menschen herzustellen.“ (Der Neuling)
Die damalige Zeit ist mit all ihren Farben in der Kleidung und im Wohnen ziemlich „blendend“ filmisch eingefangen. Klar ging mann privat zu einem Andern nachhause, um die „rosaroten Stunden“ miteinander zu verbringen. Mann korrespondierte auch per Brief untereinander und stand somit unter steten Erwartungen auf Antworten und Begegnungen. (Aber nicht so zeitgedrängt wie heute mit den Iphones)
„Der Freund wird als Abgott der eigenen Hoffnungen und Sehnsüchte gesehen. Sie versuchen nicht, ihn zu verstehen und auf ihn einzugehen. Sie belasten ihn sogar noch mit den eigenen Schwierigkeiten. Die schwule Ehe zerbricht an der Rivalität von zwei eitlen Männern, die dazu erzogen wurden, ihre Interessen anstatt miteinander, im Wettbewerb gegeneinander durchzusetzen.„ (Erste Beziehung)
Irgendwann gewöhnt ein Paar sich aneinander und oft suchte einer dann „weiter in der Stadt herum“. Es kam auch Eifersucht auf. Durch weitere Kontakte erfuhr man von bestimmten Lokalen, in denen sich Männer trafen die „auch so waren wie mann selbst empfand“. Wichtig waren berufliche Tätigkeiten mit möglichst vielen Begegnungsaussichten, wie in der Gastronomie, im Verkauf, als Vertreter, etc.
Damals traf man sich in privaten Zirkeln zu Partys, zum Essen, oder zum Konsum bürgerlicher Kultur wie Theater, Konzert, oder man sah gemeinsam fern. Die 70er Jahre waren noch geprägt vom Patriarchat, in welchem sich die Älteren als Vorbild für die Jungen sahen und diese „unter ihre Fittiche“ nahmen. Sie spielten ihr Wissen in der Sexualität und ihre finanziellen Möglichkeiten aus. Junge Schwule konnten sie damit beeindrucken und für gewisse, oder auch längere Zeit an sich binden.
„Bildung und Kunst, die für die Reichen in der Vergangenheit eine todernste Freizeitbeschäftigung waren, werden von den Schwulen als Flucht vor ihren Problemen dankbar angenommen. Dass Schwule künstlerisch begabter sind, ist ein Ammenmärchen. Sie beschäftigen nur mehr damit, um, wie sie meinen, damit das Leben besser ertragen zu können… Solange Bildung und Kunst ein Mittel der Reichen und Mächtigen ist, über die menschlichen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten auf der Welt hinweg zu täuschen, sind sie radikal abzulehnen. Und solange Schwule sich einbilden, besonders wertvoll zu sein, wenn sie die Reichen zu kopieren versuchen, sind sie ebenfalls abzulehnen. Gerade den reichen Schwulen liegt daran, die Unfreiheit der Homosexuellen zu erhalten. Ihnen ist die Hilflosigkeit der Unterdrückten gerade recht, um sie damit besser ins Bett zu bekommen.“ (Vornehme Kreise)
Ich war überrascht, an den dargestellten Veranstaltungen all jene Typen versammelt zu sehen, die bis heute die „Schwulenszene“ auch bevölkern. Darunter viele, die jetzt mit Buchstaben bezeichnet werden. Die gesetzlichen Altersbeschränkungen waren relativ hoch. Ein Teil der Schwulen wohnte möglichst lange bei den Eltern/der Mutter, andere begannen sich selbst zu bekochen. Essen in Restaurants war teuer.
„Sie werden Freizeitschwule, die aus der Verlogenheit am Arbeitsplatz nur allzu gerne in die Welt der Schwulen flüchten, wo sie zwar nicht als Menschen, aber als Schwule anerkannt werden. Sie treffen sich bei Kaffee und Kuchen, hören Chansons von Zarah Leander und der Dietrich und fahren an gemeinsame Urlaubsorte wie Sylt und Torremolinos… Was beim Spiesser die Wohnungseinrichtung, Fernsehapparat und das Auto sind, ist beim Schwulen die Mode. Wie Konsumgegenstände im Warenhaus durch ihre Verpackung vom Inhalt ablenken, so benutzt der Schwule die Mode, um nur auf sein Aeusseres aufmerksam zu machen. Die Lust am Schmücken des eigenen Körpers, entspricht der ungeheuren Eitelkeit der Schwulen, die bald unfähig sind, ausser sich selbst, noch Andere zu lieben. Was vor Jahren bei Schwulen der hellblaue Pullover war, der sich von der langweiligen Männermode auffällig unterschied, hat sich zu Exhibitionismus und Fetischismus entwickelt.“ (Barbekanntschaften)
Wenn jemand zu einem Schwulentreff gefunden hatte, lernte er bald auch das übrige „Milieu“ kennen. In allen vorwiegend männlichen Gruppenbildungen schleicht sich die Frauenrolle immer irgendwie ein. Sei es in Schulklassen, im Militär oder im Sport. Das trifft auf Abwehr, weil die „andere Rolle“ auch als aufs „andere Geschlecht“ beschränkt empfunden wird. Im Gegensatz zu den hetero Orientierten müssen sich Schwule ständig damit und sich selber auseinandersetzen.
Tunten sind nicht so verlogen wie der spiessige Schwule. Ein schwuler Charakter ist oft eitel, launisch und neidisch. Tunten übertreiben ihre schwulen Eigenschaften und machen sich über sie lustig. Sie stellen damit die Normen unserer Gesellschaft in Frage und zeigen, was es bedeutet, schwul zu sein.“ (Nachtleben)
Ich hüte mich davor, die Charakteristiken der Leder- und Motorradszene, die im Film zu hören waren, zu zitieren. Noch in den späteren Jahren der Basler Szene fühlten sich solche Schwestern „betroffen“, wenn ich sie jeweils als solche bezeichnet habe. Nur eines sei erwähnt:
„Um den Verlust ihrer Männlichkeit zu verdecken, behängen sie sich mit den Symbolen der Männlichkeit. Aehnlich wie sich bei den Nazis, in Cowboyfilmen und beim Militär versteckte Homosexualität zeigt, so ersehnen sich die Ledermänner durch deren Symbole eine Welt der Gewalt. Doch sind sie so harmlos wie ein Kind beim Kriegsspielen. Lust, die nicht mehr direkt erlebt werden kann, wird zur Perversion. (Lederkerle)
Die Männer-Pissbuden waren ein beliebter, aber verachteter Anlaufpunkt, ebenso die öffentlichen Stadtparks in den Abend- und Nachtstunden. Sie waren aber auch Zielorte für Gewalttäter und „Schwulenklopfer“ – Raub war für diese ein beliebtes Motiv. Vor allem Jüngere wollten am aufkommenden Wohlstand teilhaben. Viele hatten auch „strafende Motive“ aus religiösen und kulturellen Herkunftsmilieus, oder jemand „bestrafte“ am Andern eigene tiefere Wünsche.
„Sie geben vor, die Pissbuden-Schwulen zu verachten, was sie aber nicht daran hindert, die Pinkelbuden heimlich aufzusuchen, wenn sie in ihren vornehmen Bars niemanden gefunden haben. Hier finden sie Gefallen an den oft maskulinen Arbeitertypen, die kein Interesse haben, ihre Geilheit unter Mode und guten Manieren zu verstecken. (Klappen)
Praunheims Film endet mit dem Hinweis auf studentische Gruppen und Wohngemeinschaften, die damals entstanden sind. Er zeigt eine inszenierte Diskussion über „die perverse Situation“, zeigt soziale Mechanismen und ruft zum Schluss auf, die bürgerlichen Konkurrenz unter den schwulen Männern aufzugeben, damit die gesellschaftlichen Verhältnisse gemeinsam verändert werden könnten. Peter Thommen_72, Schwulenaktivist, Basel (Zitat-Teile aus dem Film)
Publikumsdiskussion: Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (102 min) 1973
Schwulenpärchen 1970, porträtiert vom damaligen Lifestyle Magazin JASMIN
Diskussion über die Anfänge der Schwulenbewegung in der BRD mit drei in den 70er Jahren Beteiligten: Peter Hedenström, Martin Dannecker und Stefan, moderiert von Patsy l’amour la love, aufgezeichnet im SchwuZ 2015, ca. 60 min.
Die Geschichte des § 175 von Preussen bis in die BRD