Die „Prinzenphase“ junger Schwuler (2006/22)

Von Peter Thommen (2006)

Im Hinblick auf das coming out, die daran anschliessenden Lernprozesse schwulen Zusammenlebens, sowie den Zeitpunkt des bereits wieder „Älterwerdens“ als Schwuler, ist diese „Prinzenphase“ (1) eine richtige Crashfahrt!

Doch wollen wirklich alle diesen „Über-Boy“ wie einen Prinzen erobern – koste es, was es wolle? Geht es wirklich darum, auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten ein Sieger zu werden? Wollen wir „Hochzeitsveranstaltungen“ und Kirmes der Heterosexuellen nachahmen, um daraus Wettbewerbe für die Partnerwahl – und das Standesamt – zu etablieren? Müssen die Boys und Männer, die Boys und Männer begehren, immer das stärkste, schönste, gewinnendste, „süsseste“, „am heterosexuellsten“ aussehende männliche Wesen begehren – und gegen einander darum kämpfen?

Mich hat eine Erzählung aus dem Gilgamesch-Epos nachdenklich gemacht! Gilgamesch, der Fürst aus einer vorgeschichtlichen Stadt hatte sich entschlossen, gegen einen wilden und starken Mann aus dem „Urwald“ anzutreten, dem er erst eine „Frau“ an die Tränke schickte, damit er sich vergnüge, bis der nach sieben Tagen seine wilden Kräfte verlor, von denen man ihm berichtet hatte: Er lief so schnell wie eine Gazelle und hatte die Kraft, ganze Felsen und Landstücke zu verschieben…

Gilgamesch entschloss sich nun, ihm einen Zweikampf zu liefern – unter den Augen der Stadtmenschen…(2) Doch beider Kräfte waren gleich. Diese Erkenntnis einer „Gleichwertigkeit“ in der Kraft führte zu Freundschaft und Liebe zwischen den beiden vormaligen Konkurrenten – und nicht zu Heirat, Unterwerfung oder Tötung eines der beiden! Die historische Erzählung weist auf eine grundsätzlich andere Möglichkeit der körperlichen Auseinandersetzung zwischen Männern hin. In unserer Gesellschaft aber wird das „heterosexuelle“ Modell des Konkurrenzkampfes propagiert: Kampf der Männer über die Frauen und um die Rangordnung unter den Männern.

Junge Schwule, die meistens in ihrer Altersgruppe schon eher „unten durch“ müssen, weil sie kein kämpferisches Verhaltensmuster zeigen, oder wenn doch, dann ihre gleichgeschlechtlichen Gefühle meistens unterdrücken und verheimlichen (müssen), rutschen in eine Szene, die Konkurrenz unbarmherzig „unter Gleichen“ weiterspielt – mit anderen Mitteln: Szeneklamotten, Szenetratsch, Ausgrenzung von noch „unmännlicheren“ Boys und Männern, als man selber ist: Feminine und Tunten.

Eine gegenseitige „partnerschaftliche“ Disziplinierung und Abhängigkeit beim gegenseitigen Zugang zu Körper und Geschlechtsorganen wird etabliert. Sexuelle Treueforderungen wie in einer heterosexuellen Ehe. Auch Abhängigkeitsverhältnisse durch Fetischverhalten oder aussergewöhnliche Sexualpraktiken binden Partner fester aneinander.

Bevor einer sich seiner einmaligen Persönlichkeit bewusst werden und diese auch ausbilden kann, wird er mit Forderungen konfrontiert und sieht sich zu Fragen genötigt, wie: Ist mein Schwanz gross genug? Bin ich schön und habe ich die richtigen Klamotten und Accessoires – oder gar: Mache ich auch den „richtigen“ (penetrierenden) Sex?

Viele … sagen: Ich warte auf den Richtigen. Dann habe ich einen triftigen Grund, mich zu outen. Worauf ich entgegne: Warum genügt es nicht, dass Sie richtig sind? Was haben Sie davon, auf einen anderen Mann zu warten?“ (3, S. 38)

Wie kommt es zu dieser von mir mal so genannten „Prinzen-Phase“? Die Problemsituationen vieler Boys und Männer in der Szene, oder irgendwo „in“ der Gesellschaft, laufen relativ heftig in kurzer Zeit ab. Wir müssen uns bewusst machen, dass viele Boys nicht schon mit 13, 14 oder 15 Jahren pubertieren (mit ihren sexuellen Bedürfnissen „daherkommen“), wie es ihre körperliche Entwicklung erfordert, sondern verzögert, erst mit vielleicht 17, 19 oder 21 Jahren.

Joe Kort beschreibt die coming out-Phasen nach Vivienne C. Cass: „Der erste Schritt beginnt vor sich selbst. Erkennen, dass andere Männer sexuell attraktiv für einen selbst sind. Im zweiten Schritt beginnt ein Mann die Möglichkeit zu akzeptieren, dass er schwul sein könnte. Mit dem dritten Schritt akzeptiert der Einzelne die Wahrscheinlichkeit, dass er homosexuell ist und beginnt, sich selbst mit dem Wort schwul zu bezeichnen. Der vierte Schritt geht von der blossen Toleranz zur Akzeptanz und Identifizierung als schwuler Mensch.“ (3, S. 40ff)

Nach Thomas Grossmann (4) findet der erste Schritt eigentlich bereits mit 11-12 Jahren statt. Der dritte Schritt erfolgt mit 18-20 Jahren. Aber der Eintritt in die sogenannte Prinzen-Phase erfolgt in der Regel erst um die 22-24 Jahre. Einerseits sind die Abstände dazwischen schon sehr gross und andererseits wird der „Crash“ nach dem dritten und vierten Schritt bis zum „Älterwerden“ (ab ca. 30 Jahre unter den Schwulen) relativ kurz aber heftig! Völlig verschwunden sind anscheinend der fünfte und sechste Schritt nach Kort/Cass: Nach der Identifizierung die Wut ausdrücken wegen der Diskriminierung durch Heterosexuelle – und dann die Erkenntnis: Nicht alle Heteromänner sind „so“!

Nach verschiedenen Studien verbringen später homosexuell aktive Männer (inkl. offen bi- und heterosexuell Lebende) ihre homosexuelle Kindheit und Jugend relativ isoliert von den anderen Jungs. Sie leben ihre Homosexualität nicht mit, sondern „neben“ der Heterosexualität, oder den heterosexuellen und „unsichtbaren“ anderen homosexuellen Jugendlichen. Falls sie dann mit der Praxis wirklich beginnen, haben sie erst spät „gemeinsame“ Erfahrungen mit anderen und suchen sich heute häufig erst langwierig „den richtigen“ Partner, der meist auch keine Erfahrung hat, die über eine kurze oder längere Zweierbeziehung hinauskommt.

Thomas Grossmann hat seine Studie in „weiche“ und „harte“ Jungen aufgeteilt. Solche die einen engeren Aktionsradius wie Wohnung, Garten hatten, und andere, die durch Sport und Engagement weiter von zuhause weg kamen. Auch stellten sich letztere dem handfesten Kampf und erfüllten die „männliche Norm“. Dies war für sie „selbstverständlich“.

Interessant: Im Blick auf die spätere, erwachsene Zeit als homosexuell Praktizierende, kommt er zum vorläufigen Schluss, dass die normal angepassten Jungs einige Zeit später feste homosexuelle Beziehungen aufnehmen, diese dann aber „dauerhafter und offener gestalten“.

Die weichen Jungen hingegen beginnen früh mit festen Partnerschaften, diese dauern jedoch selten lange, und auch spätere Freundschaften sind nur vereinzelt langlebig… Ob sich darin Beziehungsprobleme der „weichen Jungen“ widerspiegeln, oder ob die „harten Jungen“ bloss versuchen, Normalität zu leben und länger an problematischen Beziehungen festhalten, kann aus unseren Daten nicht beantwortet werden.“ (Grossmann)

Das würde dem heterosexuellen Modell entsprechen, bei welchem über die Hälfte der Ehen in ihren Grundabsichten nach kurzer Zeit scheitern und viele einfach an problematischen Beziehungen festhalten, oder wegen der Kinder nicht auseinander gehen.

Ist diese „Prinzen-Phase“ eine persönlichkeits-bildende oder eher persönlichkeits-zerstörende Zeit? Ist die Jagd oder die Sehnsucht nach dem „Richtigen“ (dem Prinzen oder Crushboy) eine Einbahnstrasse, oder eine einfachere Erlösung von den Problemen der Persönlichkeitsentwicklung – auf Zeit hinausgeschoben? Jedenfalls haben sich die Bedingungen für die „Anbetung des Prinzen“ und die Karriere als Schwuler in den letzten 25 Jahren völlig verändert! An Stelle von Gruppenerlebnissen sind die Jagdszenen in hetero und gay Discos nach bestimmten „Beuterastern“ getreten. Ganz zu schweigen von den Weiten des Internets… Was machen „junge Schwule“ ab 30? Festhalten an einer problematischen Beziehung? Als Single das Leben als „gelaufen und gescheitert“ betrachten? Sich zurückziehen ins Private?

Abschliessend dürfen auch die 40-50jährigen ehemals/noch immer Verheirateten und/oder heterosexuell lebenden Männer nicht vergessen werden. Jeder, der mit der Homosexualität als Lebenspraxis oder -orientierung beginnt, wird mit dieser Phase Bekanntschaft machen und daraus seine Schlüsse fürs Weiterleben ziehen müssen. Wer baut ihnen einen Party-Tempel? Es sieht leider nicht danach aus, dass es zu Kreativität oder Fröhlichkeit (gay) führen würde. Eher in die Privatheit oder in eine soziale Isolation. Schwule leben nur in einer kurzzeitigen Gegenwart, damit ihr ganzes Leben nicht die „heterosexuelle Toleranz“ bedrohen kann!

Peter Thommen_56, Schwulenaktivist (redigiert für Publikation 2022)

1) Der Crushboy ist ein „Überwältiger“, ein Mächtiger, eine Siegerfigur. Er vereint auf sich alles, was ein junger Schwuler als „Klemm-Schwester“ meistens nicht hat! (Interpretation aus der Cassell-Übersetzung, pt)

Der Crushboy war der schönste, cleverste und erfolgreichste Junge deiner Schule. Alle Mädchen wollten ihn haben. Und du auch. (Johannes Sieber über den Namen für seine (ehemaligen) monatlichen Parties in Basel)

2) ‚Auch du bist stark und gewaltig’ erwiderte Gilgamesch. ‚Meine göttliche Mutter hat mir im Traum deine Ankunft angekündigt; sie hat mir angekündigt, du würdest mir wie Anu’s (mächtiger Gott, pt) Hand eine Stütze sein. Du bist in der Steppe zur Welt gekommen, kein Sterblicher kommt dir gleich!’

Als Enkidu Gilgameschs Worte vernahm, blieb er wie eine Statue des Tempels regungslos stehen; aber nach einer Weile setzte er sich und vergoss Freudentränen. Kaum hatte Gilgamesch die Tränen in seinen Augen gesehen, da trat er zu ihm und reichte ihm die Hand.Gilgamesch und Enkidu ergriffen sich an den Händen, sie umarmten einander wie Brüder und das Volk von Uruk, das sie umringte, schwieg vor Staunen.“ (Zamarovsky, 1979, S. 18) Dieses weltweit erste Dokument über eine Männerbeziehung wurde in Tontafeln überliefert!

3) Joe Kort: Schwul und cool (so optimierst du dein Leben!), Gmünder 2004, 250 S. ISBN 3-86187-665-5 (Ten Smart Things Gay Men Can Do to Improve Their Lives, Alyson 2003/2016)

4) Thomas Grossmann: Prähomosexuelle Kindheiten, eine empirische Untersuchung. Zschr.f. Sexualforschung 15/2002