Angst vor den Schwulen, drehpunkt 1977

(Der Text wurde in der Thema-Nummer „Obszönes aus der Schweiz“ des „drehpunkt“ publiziert, einer zeitgenössische Literaturzeitschrift, Oktober 1977, PT)

Allgemein besteht die Ansicht, die Pornowelle in den Massenmedien habe auch zu grösserer Bereitschaft der Gesellschaft geführt, sexuelle Andersartigkeit zu tolerieren. Doch der Anschein trügt, die Toleranz ist abstrakt geblieben, sie hat die konkreten Hindernisse, die den Homosexuellen das Leben schwermachen, nur wenig abbauen können. Hinter all den gesetzlichen und sozialen Schranken, mit denen die Homosexuellen diskriminiert und kriminalisiert werden, steckt nichts als die nackte „Angst der Gesellschaft vor dem Element der Homosexualität“; eine Angst, die untergründig mit der Angst des Mannes vor dem Verlust der patriarchalen Herrschaftsposition zusammenhängen mag.

Dies ist das Fazit eines Gesprächs, das Christian Fink für den „drehpunkt“ mit Peter Thommen geführt hat.

Er ist Buchhändler und Sozialarbeiter und gehört zu den Gründungsmitgliedern der 1972 entstandenen Homosexuellen Arbeitsgruppe Basel (HABS).

In dem Ausschnitt, den wir hier abdrucken, geht Thommen zuerst auf das Selbstverständnis der männlichen Homosexuellen ein und nachfolgend auf ihr Verhältnis zur Pornografie.

Fink: Gibt es innerhalb der Schwulen-Szene Auseinandersetzungen?

Thommen: Es gibt Auseinandersetzungen einmal über die politische Richtung und zweitens, wie man seine Homosexualität an die Oeffentlichkeit tragen soll. Es gibt in der Schwulen-Szene zwei extreme Seiten: Erstens die sogenannte „Leder-Szene“. Hier treten vor allem diejenigen Schwulen auf, die extrem männlich sein wollen. Auf der anderen Seite gibt es die Gruppe, die sich speziell feminin gibt, die sogenannten „Tanten“ und „Schwestern“. Beide provozieren sowohl die Schwulen selbst, wie auch die Oeffentlichkeit durch ihr Auftreten. Beide karikieren di in unserer Gesellschaft möglichen Rollen, die als Mann oder als Frau.

Die politisch engagierten Homosexuellen profilieren sich vor allem links, innerhalb der Arbeitsgruppe. Sie profilieren sich aber nicht in den Links-Parteien. Diejenigen Schwulen, die in rechtsstehenden Parteien organisiert sind, profilieren sich weder in der Partei, noch in der Arbeitsgruppe.

Fink: Wer bekennt sich zur Homosexualität, wer nicht?

Thommen: Es können sich diejenigen dazu bekennen, die es sich leisten können. Das heisst: entweder ist ein Schwuler selbständig, also selbständig erwerbend und hat viel Geld, so dass er es sich leisten kann, oder er ist Angestellter, und dann muss er aber einen sehr liberalen Arbeitgeber haben, der sein Auftreten als Homosexueller toleriert, und er muss einen Arbeitsplatz haben, an welchem das Image seiner Firma auch durch sein Auftreten nicht tangiert wird.

Fink: Gibt es Zusammenhänge zwischen der Frauenemanzipation und der Emanzipation der Homosexuellen?

Thommen: Sicher. Vorläufer der Schwulen-Emanzipation ist auf jeden Fall die Frauenemanzipationsbewegung, also derjenigen Frauen, die zuerst das herkömmliche Bild des Mannes angegriffen haben. Sie haben es ermöglicht, dass auch ein Schwuler, der ja dem herkömmlichen Mannbild nicht entspricht, eine Möglichkeit sieht, einen Angriff auf dieses Männerbild, auf das Patriarchat, zu starten.

Gemeinsam haben die Frauen und die Schwulen das Faktum, dass sie nicht Mann sind. Eine weiterer Gemeinsamkeit ist, dass beide eine sexuelle Beziehung mit einem Mann suchen. Sowohl die Frauen, als auch die Männer erleben den Mann als Gegenüber. Die Frauen haben versucht, sich aus ihrer Rolle herauszuzwängen, und der Schwule versucht das Hineinzwängen in eine Rolle, entweder als Mann oder als Frau, zu verhindern und abzuwehren. Ich behaupte daher, dass sowohl die Frauen wie auch die Schwulen gemeinsame Interessen an der Emanzipation beider Gruppen haben.

Fink: Existieren Einflüsse der Hetero-Gesellschaft auf die Schwulen?

Thommen: Der grösste Einfluss ist bestimmt die Erziehung von der Kindheit an bis in die Berufslehre. Als Homosexueller bezeichne ich das in globo als „Hetero-Terrorismus“. Das heisst einfach, dass die ganze Erziehung, die ganze Kultur, das ganze öffentliche Lebena uf die Heterosexualität ausgerichtet ist. Vor allem die Werbung propagiert die heterosexuelle Beziehung. Sie propagiert auch die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Es ist darum logisch, dass auch die Schwulen versuchen, die Rollenverteilung auf ein Verhältnis zwischen Mann und Mann zu übertragen. Sie versuchen auch, eheähnliche Verhältnisse einzugehen. Sie versuchen, die Treue zu propagieren; dies misslingt aber den meisten, weil es nicht dasselbe ist: Das Verhältnis zwischen Mann und Frau ist ein ungleiches Verhältnis; das Verhältnis zwischen Mann und Mann ist zunächst einmal ein Verhältnis zwischen gleichen. Die Ungleichheit lässt sich nicht auf das gleiche Verhältnis übertragen. Es gibt zum Beispiel vor allem Probleme mit der Haushaltführung: die Haushaltführung ist in einer klassischen heterosexuellen Beziehung geregelt: die Frau macht den Haushalt, der Mann geht arbeiten. Zwei zusammen lebende Männer müssen diese Arbeit neu verteilen.

Fink: Wo treffen sich Schwule?

Thommen: Schwule haben verschiedene Möglichkeiten, sich zu treffen. Diese Möglichkeiten richten sich nach den sexuellen Bedürfnissen. Schwule sind – da sie meistens kein festes Partnerverhältnis haben – auch nicht sehr festgelegt. Sie haben Clubs und Bars, um sich regelmässig zu treffen; sie haben auch die Sauna für sexuelle Kontakte und für kurze Kontakte sind die Parks und die Toiletten, wo Anonymität herrscht, bevorzugte Orte.

Fink: Gehören die Homosexuellen, die sich in Parks und auf Toiletten treffen, zur sozialen Unterschicht?

Thommen: Nein, es treffen sich dort Homosexuelle aller sozialen Schichten. Wesentlich ist der Punkt der Anonymität und das Bedürfnis nach einem kurzen sexuellen Erlebnis.

Fink: Was bedeutet Pornografie für den Schwulen?

Thommen: Pornografie hat für den Schwulen eine grössere Bedeutung als für den Heterosexuellen, weil er die Wünsche und Triebe, die er in seinem täglichen Leben nicht ausleben kann, in der Pornografie bildlich dargestellt und realisiert sieht. Man kann sich mit der Pornografie zurückziehen und seinen Wünschen in der Phantasie freien Lauf lassen.

Fink: Jetzt ist es doch aber so, dass es zwar viele Wochen- und Monatsmagazine gibt, in denen Mädchen nackt abgebildet werden; Männer aber werden selten nackt gezeigt. Weshalb?

Thommen: Der Mann darf nicht Gegenstand der Pornographie sein, weil dadurch, durch die Nacktheit, auch eine gewisse Blösse und Verletzlichkeit zum Ausdruck kommt. Weil der Mann in unserer Gesellschaft der herrschende Teil ist, ist er auch nicht Gegenstand oder Zielobjekt sexueller Wünsche; diese Rolle ist vorwiegend der Frau zugeteilt. Und die Pornografie-Gesetzgebung in der Schweiz ist in der Beurteilung hier auch sehr konsequent. Die Darstellung nackter Männer wird wesentlich strenger beurteilt als die Darstellung nackter Frauen. Es sind im übrigen auch die Männer, welche die Darstellungen beurteilen.

Fink: Kommen Homosexuelle trotz dieser harten Bestimmungen zu pornografischer Lektüre?

Thommen: Sie kommen unter wesentlich erschwerteren Bedingungen dazu als die Heterosexuellen. Natürlich wird der Verkauf und die Einfuhr dieser Lektüre durch die Gesetze kriminalisiert.

Fink: Weshalb ist die Homosexualität in der Literatur nur am Rande vertreten?

Thommen: Weil Homosexuelle in unserer Gesellschaft mehr am Rande leben, weil in der Literatur nicht sichtbar werden darf, was es in der Gesellschaft auch nicht geben darf. Sobald etwas in der Literatur aufgeschrieben und veröffentlicht wird, gibt es das halt auch; man kann es nicht wegleugnen, vertuschen. Dann findet die Situation der Homosexuellen auch eine Parallele in der Literatur, die sich mit der homosexuellen und homoerotischen Beziehung befasst oder eben nicht befasst.

Fink: Es gibt in der Schweiz einige schwule Schriftsteller, was sich aber in ihren Arbeiten nicht oder nur unbedeutend äussert. Haben sie Angst, sich öffentlich zur schwulen Sexualität zu bekennen?

Thommen: Sicher. Ich kenne persönlich und durch Bekannte einige Schriftsteller, die homosexuell oder zumindest bisexuell empfinden. In ihren Werken sucht man aber vergeblich nach diesem Erlebnisbereich. Eine Ausnahme ist sicher Guido Bachmann. Er hat schon vor rund zehn Jahren mit seinem Erstlingswerk „Gilgamesch“ die homosexuelle Empfindung und Liebe zu beschreiben versucht. Es wäre sicher positiv, wenn die Schriftsteller die Homosexualität und die Homoerotik in ihre Werke miteinbeziehen würden.

Fink: Abschliessende Frage: Was bedrückt Dich als Schwuler in dieser Gesellschaft am meisten?

Thommen: Es bedrückt mich, dass ich sehe, wieviel ich mit den sogenannt „Normalen“ gemeinsam habe und dass sie, die Normalen, oft nur das sehen, was mich von ihnen unterscheidet. Mein erstes Problem war, wie finde ich heraus, ob meine Freunde und Bekannten positiv oder negativ eingestellt sind. Das nächste Problem war, wie ich es ihnen sagen sollte. Und mit der Emanzipation ist es mir zum Problem geworden, wie sage ich es ihnen, ohne dass sie vor mir Angst haben müssen? Der Anteil der Homosexualität, die in jedem Mensch vorhanden ist, löst jeweils soviel Angst aus, dass eine Beziehung auf gemeinsamer Ebene gar nicht erst möglich wird.

Drehpunkt 36/37, Oktober 1977, S. 60-63, Christian Fink, Angst vor den Schwulen

Der Text wurde nachgedruckt in: Drehpunkt 1968-1979, Lenos 1980, S. 1363-1366

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