Wiesendanger: Das Kind im schwulen Mann, 2010

Viele Männer schlagen sich mit Homosexualität and den Problemen damitherum. Meist ohne dass sie wissen, oder zugeben würden, dass die Symptome damit einen Zusammenhang haben. Wir lernen ja auch, das zu verdrängen.

Wiesendanger macht uns darauf aufmerksam, dass es therapeutische Hilfe gibt. Und er zeigt, was zur Verfügung steht.

„Wir können uns aber auch an Fachleute wenden, die uns in einer Krise unterstützen sollen. Hierbei gibt es eine für den Laien schier unüberblickbare Vielzahl unterschiedlicher Behandlungsansätze und Therapierformen. An wen soll man sich also in der Not wenden? Soll man besser zu einem Psychiater oder einem Psychotherapeuten gehen? Was sind überhaupt die Unterschiede zwischen diesen Berufsfeldern?“ (S. 8)

„Da es den Rahmen dieses Buches bei weitem sprengen würde, alle Therapieansätze unter die Lupe zu nehmen, stehen hier nur die vier Hauptrichtungen universitär begründeter Disziplinen zur Diskussion, nämlich die Psychiatrie, beziehungsweise Psychopharmakologie, die Kognitive Verhaltenstherapie, die Psychoanalyse, beziehungsweise Tiefenpsychologie, und die Therapienahnsätze der Humanistischen Psychologie.

Es soll aufgezeigt werden, von welchen Menschenbildern her die verschiedenen Methoden seelische Krisen betrachten und welche Schwerpunkte sie in ihre Therapie legen. Gerade weil das Verhältnis von Psychiatrie, beziehungsweise Psychotherapie und Homosexualität, sowohl historisch betrachtet, wie auch teilweise bis in die Gegenwart hinein, sehr belastet ist, interessiert insbesondere, wie die verschiedenen Fachrichtungen in der Vergangenheit mit schwulen Männern als Patienten, respektive Klienten umgegangen sind und auf welche Art und Weise sie heute schwulen Männern begegnen, beziehungsweise mit dem Thema Homophobie umgehen.“ (S. 9)

Die Therapie Erwachsener zeigt immer viele Bezüge zu Kindheit und Jugend auf. In diesen Phasen, schreiten oder scheitern wir. Wir lassen sie auch nicht endgültig hinter uns, sondern die Psyche schafft es immer wieder, zurückzukehren an diese Wendepunkte. So ein Punkt ist auch das coming out. Heute eher belächelt und kritisiert, ist es aber die Wende von den Ahnungen, Sehnsüchten und Erlebnissen zur Eigenverantwortung gegenüber sich selber und der Umgebung. Wer das nicht schafft, wird immer ein schwules Kind bleiben. Denn erwachsene Heteros stehen auch zu ihrer Sexualität, auch wenn das für alle „selbstverständlich“ ist.

Indem das als „unnötig“ erachtet wird, findet keine Parallele zu den Heteros statt und damit auch kein wichtiger allgemeiner Entwicklungsschritt. Es schadet also den Schwulen, weil es meistens verweigert oder verhamlost wird, von den Betroffenen, oder von der Umgebung…

Schwule können ja nichts dafür, dass es selbstverständlich ist, eine Freundin heimbzubringen, aber der Erklärung bedarf, wenn es ein Mann ist. Dann sollen sie es auch nicht kritisieren oder „vernichtigen“. Damit behindern sie uns nur.

Dass Männer, die mit Männern Sex haben, öfter einer Reflexion und Therapie bedürfen, zeigen die Umstände in der Gesellschaft und auch die vielen Fetische und Eigenarten, die zB in Internetplattformen sichtbar werden. Darüber gäbe es Bücher zu schreiben…

Wiesendangers Buch kann Männern helfen, damit umzugehen lernen, eine hilfreiche Behandlung zu suchen und zu finden, sowie eine Ahnung von verdrängten Problemen zu bekommen. Wenn sie es denn wollen.

Ein eigenes Kapitel widmet er der Spiritualität. Das drängt sich schon deswegen auf, weil wir männliche Götter haben und das Verhältnis (Schuld/Harmonie) zu ihnen auch unsere Beziehungen zu anderen Männern mitbestimmt. Religion ist oft tief in uns verankert und nur eine Bewusstmachung kann uns von ihren Fesseln lösen, von Eltern, Glaubenssätzen und Göttern.

Das Buch ist bei ARCADOS immer vorrätig (Bei vielen Buchhandlungen leider nicht!) und kann günstig versandt werden.

Wiesendanger, Tim Kurt: Das Kind im schwulen Mann. In seelischen Krisen zum wahren Selbst finden, V&R 2010, 150 S. CHF 29.50

Siehe auch die Sendung „Musik für einen Gast“ vom 21.5.2011 mit dem Autor auf gayradio Bern

Interview im Cruiser, Mai 2010, S. 30

CR: Was meinst Du mit dem Kind im schwulen Mann?

W: Die Erfahrungen aus der Kindheit und der Jugend prägen jeden Menschen sehr tief. Meist, ohne dass wir uns dessen gewahr sind, gestalten wir daraus unser Leben. Unbewusst handeln wir nach Mustern, die auf familiäre und gesellschaftliche Gebote und Verbote in unserer Kindheit zurückgehen, oder wir widersetzen uns ihnen. Dies steuert unsere Partnerwahl, die Art und Weise, wie wir zwischenmenschliche Beziehungen gestalten, unser Berufsleben und vieles mehr.

CR. Und was ist daran speziell bei schwulen Männern?

W: Wir waren schon immer „etwas anders“ als die andern. Dieses Anderssein irritierte unsere Eltern, Geschwister, Lehrer, Klassen- und Spielkameraden (* PT). Die Reaktionen auf diese Irritationen, etwa in Form von Zurückweisung, ausgeschlossen oder verlacht zu werden, prägten unser kindliches Erleben nachhaltig. Diese Erfahrungen gingen mit Gefühlen des Alleinseins, des Nichtgenügens, der Schuld, Scham, Angst und der Minderwertigkeit einher.

CR: Wir erlitten also schon vor der Pubertät seelische Verletzungen, die mit unserem Schwulsein zu tun haben.

W: Überaus schmerzliche sogar, auch wenn wir uns vielleicht gar nicht mehr daran erinnern. Spätestens mit der Pubertät wurde unser Anderssein dann bewusst bedrohlich.

CR: Aber haben wir diese Verletzungen mit einem coming out nicht überwunden?

W: Selbstverständlich ist ein coming out ein wesentlicher Entwicklungsschritt der Befreiung. Doch sitzen verinnerlichte Minderwertigkeitsgefühle so tief, dass auch mit einem coming out nicht alle aus der Welt geschaffen sind. In Krisen kommen diese wieder hoch.

CR: Wie denn?

W: Die Auslöser sind vielfältig, etwa Trennungen, Partnerschaftskonflikte, sexuelle Probleme, Unzufriedenheit im Beruf, oder überhaupt mit dem Leben, ein Burn-out, oder eine Midlife-Crisis. So fühlen wir uns niedergeschlagen, antriebs- und freudlos, deprimiert, ängstlich und schlafen vielleicht schlecht. Oft resultiert daraus ein Suchtverhalten, etwa Alkohol-, Nikotin-, oder Drogenmissbrauch, aber auch Arbeits-, Geltungs-, Internet- oder Fernsehsucht.

(PT siehe auch hier die Studien von Plöderl, Kralovec, Fartacek & Fartacek)

Anmerkung von Kurt Büchler (CR): „Mann kann aus allem ein Problem machen und auch Problemlösungen anbieten. Als Rezensent meine ich, diverse so genannte Probleme haben nicht unbedingt etwas mit dem Schwulsein zu tun, sondern treffen auf jeden zu.“

Anmerkung von Peter Thommen: „Diese Kritik ist typisch und heterosexuell geprägt: Nur nicht ein Problem machen, ist alles nicht so schlimm. So werden Schwule auf Distanz gehalten, von einer Beratung und von Hilfsangeboten. Das Ignorante daran ist: Die Probleme der Schwulen werden – so formuliert – nie in einem schwulen Lebenszusammenhang erkannt. So werden sie „heterosexuell interpretiert und therapiert“. Das ergibt keinen Sinn und keinen Gewinn! Höchstens für die Heteros, die sich nicht „mit was schwulem herumplagen“ müssen. Migranten haben auch spezifische Probleme, genauso wie Farbige, oder Behinderte in je ihren individuellen Lebenszusammenhängen.

 

* (PT: Dazu ein Beispiel. Mir wurde erst viel später im Leben bewusst, dass ich mit meiner allgemeinen spürbaren Nähe zu Schulkameraden, deren Aggression ausgelöst haben muss. Wir konnten zwar meistens gut diskutieren, aber die „Nähe“ wurde – auch dadurch – zu gross. Damit hatte ich allerdings bei den Mädchen keine Probleme. – Ich war ein „Meitlischmöcker“, während die Jungs Distanz hielten. In der Pubertät hielt ICH dann die Distanz und SIE waren aber die Meitli geilen…)   😉

 

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