Nelson: Er gehört zu mir

Ich habe lange gebraucht, um in dieses Buch hinein zu dringen und während des Lesens musste ich öfter mal Pausen machen. Craig Nelson hat eine Fülle von Informationen und Beispielen zusammengetragen, die einem eher „erschlagen“, als helfen können. Trotzdem können wir uns in seinem Buch erkennen und werden an vieles erinnert, was wir eigentlich zwar in Erinnerung, aber einfach ins Unbewusste „verschoben“ haben.

Ich habe von den amerikanischen Autoren, die ich gelesen habe, immer wieder den Eindruck bekommen, sie „Rat schlagen“ auf der heterosexuellen Erfahrungslinie und betrachten homosexuelle „Beziehungen“ als Kopie der heterosexuellen – einfach mit ein paar abweichenden Problemen. So wird das herkömmliche Denk- und Erfahrungsmuster nicht in Frage gestellt, aber tausend Tipps gegeben, um das heterosexuelle System auch in der Homosexualität erhalten und als Vorbild nutzen zu können. Denn schliesslich kommen die meisten von uns aus heterosexuellen Familien. So wird das dann auch als „normal“ – weil vertraut – empfunden.

„… ist der erste Ratgeber, der alle Probleme schwuler Männer anspricht, die gern eine Partnerschaft fürs Leben wollen, und das Buch sucht (!! PT)auch nach Lösungen für diese Probleme.“ (S. 14)

Ich muss nun aber zu bedenken geben, dass zwei Männer niemals wie Mann UND Frau erzogen wurden, sondern grundsätzlich auf eine Frau hin. Da steckt schon der erste Stolperstein. Nun, ich kann mit 60 Lebensjahren auf einige Beziehungen und viele Männer zurückblicken, die ich mal geliebt, gesext, oder sonstwie kennengelernt habe. Im nachhinein bereue ich keine der Liebschaften, aber auch keine der Trennungen. Mit keinem Ex wollte ich heute noch zusammensein…

Um es klar zu sagen: Ich halte nichts von der Idealisierung der Zweierbeziehung. Sie ist eine Möglichkeit, sein Leben zu verbringen. Von mir aus auch „seriell“ – also eine nach der Anderen – und monogam. Aber ich empfinde es schon als Mangel, dass es für andere Beziehungsmuster keine Beispiele gibt und auch niemand gross danach fragt. So muss jeder sich an diesem Ideal messen und psychisch damit zurechtkommen, dass er diesen „Anforderungen“ vielleicht nicht entspricht. Aus diesen Mangelerlebnissen heraus wird der Druck noch verstärkt, das um jeden Preis zu suchen, was doch „alle wollen“..

„Vor allem die nun schon Jahrzehnte währende Bedrohung durch AIDS hat einen tief greifenden gesellschaftlichen Wandel nach sich gezogen: Nie zuvor wollten so viele Schwule so rasch eine Beziehung mit einem festen Partner aufbauen – und nie zuvor hatten dabei so viele so grosse Schwierigkeiten.“ (S. 12)

Es gibt leider nicht Wenige, die „mit HIV“ oder „mit AIDS“ einen Partner angeln, oder eine schwule Ehe begründen wollen. Sei es, dass sie die Infektion bewusst suchen, oder gerade damit den Partner an sich binden wollen. Eine schlechte Grundlage!

„Eine romantische Beziehung zwischen Männern unterscheidet sich so stark von der zwischen Mann und Frau, dass wir die ganzen Normen, die wir als Kinder gelernt haben, aus dem Fenster werfen können. Nur sehr selten entsprechen schwule Paare dem heterosexuellen Regelfall.“ (S. 12)

Immerhin gibt es in der Kulturgeschichte verschiedenste Beispiele, wie Männer unter sich zusammenleben konnten. Ich erinnere nur an die klerikalen Beispiele des Klosters oder der Mönche. Aber auch in der industriellen Arbeitswelt, oder sogar in der Bauernkultur muss es Räume für das Zusammenleben von Männern gegeben haben. Denken wir nur an den Bergbau oder die Seefahrt, oder in den langen Kriegszeiten in der Armee. Letztlich haben in der arabischen Kultur immer noch viele jungen Männer das Problem, wirtschaftlich abhängig, oder gar arbeitslos zu sein und deswegen nicht heiraten und eine Familie gründen zu können. Es fällt auf, dass einfach angenommen wird, es warte immer eine Familie mit Kindern zuhause auf den Vater…

„Wenn du dein eigenes Leben auf die Reihe kriegst, wirst du (eher) als Mann von anderen Männern langfristig ernst genommen – (nämlich) als jemand, der mit Problemen fertig wird, wenn diese unweigerlich auftauchen.“ (S. 17)

„Indem man sich selbst so gut wie möglich kennen lernt, wird man zufriedener mit den eigenen Stärken und kann die eigenen Schwächen besser akzeptieren – und dadurch wird man zu einem tollen Lebensgefährten für einen anderen Mann.“ (S. 18)

„Du musst ganz allein ein Ich und deine Persönlichkeit herausbilden – worin sonst sollte sich wohl eine andere Persönlichkeit verlieben? Louis, einer meiner Freunde, sagt immer: „Genau darum geht es doch in der Liebe – dass man auf das reagiert, was einen Menschen einzigartig macht.“ (S. 19)

Schon sind wir in einem Denkfehler! Wir bilden unser Ich niemals „ganz allein“ aus! Es bildet sich im sozialen Austausch mit Andern, vor allem solchen vom gleichen Geschlecht.

Leider wird bei so lobenswerten Aussagen immer wieder verschwiegen, dass die Sexualität ein wichtiges Kontakt- und Kommunikationsmittel ist – auch zwischen Männern und sich nicht einfach aufs heterosexuelle ficken einschränkt, auch dass Homosexualität für Schwule eine andere und stärkere Bedeutung hat als für Männer gemeinhin – egal welcher sexuellen Orientierung.

Es fehlt auch der Hinweis auf soziale Gruppenerfahrungen. Während Heterosexuelle fast alle ihre Tätigkeitsfelder zu sexuellen Eroberungen „ausbeuten“ (inkl. Uebergriffe!), werden andererseirts die begrenzten Nischen für und die Hastigkeit der schwulen Sex-Kontakte beklagt. Aber unsere Probleme sind nicht die Probleme der Heterosexuellen, wozu also in der Gesellschaft etwas ändern? Wir werden moralisiert und sollen vor allem Heteros nicht stören…

In der westlichen Welt wird das Single-Leben enorm unter- und das Leben in Beziehungen völlig überschätzt. – als ob allein dies die Erfüllung eines Lebens darstellt. Wenn du mit dir selbst nicht im Reinen bist, wirst du auch in einer Beziehung unglücklich: Tu tauschst bloss eine Reihe von Problemen und Schwierigkeiten gegen andere ein – eine neue Persönlichkeit brauchst du von niemandem zu erwarten. (S. 20)

Es gibt in dem Buch eine Menge Tipps und Einsichten, die sich aber fast ausschliesslich für und in Zweierbeziehungen eignen und ausführen lassen. Es ist immer schlecht, von einer Familienbeziehung gleich in eine Zweierbeziehung zu flüchten, das hat Adorno schon zu bedenken gegeben!

„Man kann von anderen keine Liebe annehmen, solange man sich selbst nicht einigermassen okay findet. In dieser Hinsicht können schwuler Selbsthass und ein geringes Selbstwertgefühl jeglichen Fortschritt vereiteln.“ (S.31)

Schwuler Selbsthass entsteht in der heterosexuellen Familie und in allen sich anschliessenden Institutionen wie: Schule, Verein, Vergnügungen, Partei. Die organisierte schwule Gruppe, die einen Übergang bieten kann, um sich davon zu therapieren, oder um verschiedenste Schwule oder bisexuelle Männer an einem Ort zu versammeln, wo nicht gleich gejagt werden muss, ist auffälligerweise keine ernstzunehmende Möglichkeit im Blick dieses Autors. So werden alle Probleme individualisiert, „individuell erlitten“ und damit verstärken sich die Probleme, die jeder aus seiner Familie mitbringt. Für einige soll die erste grosse Liebe den General-Therapeuten spielen, für andere wiederum müssen sich viele Sexpartner oder Lovers der Rheihe nach opfern. Ihr wisst, was ich meine!

„Es gibt Männer, die ihr ganzes Leben darum trauern, nicht heterosexuell zu sein, die ständig darüber nachdenken, was hätte gewesen sein können. Andere lassen sich über Jahre hinweg von Schuldgefühlen verzehren, fühlen sich wertlos und der Liebe nicht wert, sie unterdrücken ihre Sexualität und häufig auch alle anderen Emotionen.“ (S. 31)

„Manche sind zwanghaft auf sexuelle Eroberungen aus, um sich selbst zu beweisen, oder sie flattern von einem Liebhaber zum andern, weil sie keinen finden, der mit seiner Hingabe ihren eigenen Selbsthass überwinden könnte – wie auch, es ist die Quadratur des Kreises.“ (S. 31)

Was bleibt denn einem „hässlichen Entlein“ oder Kuckuck im heterosexuellen Nest anderes übrig, als sich seine oft aufgeschobenen sexuellen Wünsche aus Kindheit und Jugend dann erst recht und quasi mit Gewalt zu holen, wenn „das homosexuelle Milieu“ endlich erreicht oder gefunden und das Schutzalter verlassen ist? Es dauert lange bis der aufgestaute Durst gestillt ist. Dafür müssen dann auch wieder die erste grosse Liebe, oder die vielen „Richtigen“ herhalten. Und die Moral von der heterosexuellen Pädagogik: Sollen sie doch selber schauen…

Die Bedeutung der Sexualität für Heteros und Schwule ist eben auch eine verschiedene: Während der Hetero seine Männlichkeit damit beweist, dass er nicht nur wixen, sondern auch ein weibliches Wesen penetrieren kann, wobei ihm meistens das Wohlwollen der Gesellschaft sicher ist – egal wie jung oder alt, bedeutet es für einen Homosexuellen, beim Sex endlich eine Identität zu finden, die nicht mal als männlich in der Gesellschaft anerkannt ist. Aus aus der Minderheitensituation heraus will einer eben auch mit „heterosexuell“ wirkenden Männern und Jungs herummachen, die für ihn einen imaginieren „sozialen Mehrwert an Männlichkeit“ ausmachen.

„Eine erstaunliche Lektion, die uns die Geschichte der Liebe erteilt, ist etwa, dass in dem Zeitalter, als das Eheversprechen „Bis dass der Tod uns scheide“ entstand, nur sehr wenige Menschen älter als dreissig wurden. Starb ein Mann Mitte zwanzig, war er wahrscheinlich bereits zweimal verwitwet.“ (S. 46)

„Der Traum unserer Jugend? Jemanden kennenlernen und mit ihm den Rest unseres Lebens in romantischer Glückseligkeit verbringen. Die Wirklichkeit, wenn wir erwachsen sind? Eine Reihe von Beziehungen führen, die alle aus unterschiedlichen Gründen in die Brüche gehen. Das hat mehr damit zu tun, was zwischen den beiden Partnern passiert, als dass es bloss die Schuld des einen wäre. Wenn du dir diese einfache Tatsache einprägst, macht dich das beim scheitern zwar nicht glücklicher, gibt dir aber vielleicht ein wenig Weitblick und Hoffnung.“ (S. 52)

Die Individualisierung der Konflikte und ihre Einschränkung auf eine Reihe vorwiegender Zweierbeziehungen müssen einen Schwulen ja unglücklich machen. Er könnte nur in einer Gruppe diese Probleme als verbreitete Erfahrung erkennen.

„Eine Erklärung besagt, dass die Leidenschaft Spannung voraussetzt, und diese Spannung ist vorhanden, wenn zwei Menschen nicht vieles gemeinsam haben, aber völlig verliebt in einander sind. Bei Heteropaaren ist das wegen der grossen Unterschiede zwischen Mann und Frau ohnehin der Fall. Schwule Paare müssen das jedoch irgendwie wettmachen, und das kann ein ganz schöner Drahtseilakt sein“ (S. 53)

„Hast Du schon mal darüber nachgedacht, dass die traditionellen Paarungsregeln zwischen Mann und Frau auf schwule Männer nicht zutreffen und dass du deswegen nicht weisst, was du nun tun sollst? Willkommen im Club! Bei Heteros ist es immer die Verantwortung des Typen, anzurufen. Und beide Parteien wissen, was von ihnen erwartet wird – im Gegensatz dazu kann selbst der weltgewandteste Schwule in unklare Situationen mit seinem Latein am Ende sein.“ (S. 105)

„… kann man viele lustige Dinge beobachten, etwa Typen, von denen du weisst, dass die richtig scharf aufeinander sind, aber keiner macht den ersten Schritt. Zu guter Letzt findet einer von beiden die ganze Sache so frustrierend, dass er sich dem andern gegenüber gemein benimmt, der sich dann darüber ärgert. Von diesem Punkt an sind sie zwar immer noch scharf aufeinander, aber jeder hält den Anderen für ein Arschloch.“ (S. 108)

„Colins Gefühlsleben wird von gutem Sex beherrscht: Lernt er jemanden kennen, der ihm sympathisch ist, und die beiden sind zwei Stunden später schweissnass vom ficken, ist er verliebt. Er will diesen Mann so oft wie möglich sehen, und er stürzt sich regelmässig in Sexgeschichten, die rund einen Monat dauern – dann findet er entweder heraus, dass der Kerl „nicht so war, wie ich gedacht habe“, oder der Kerl ist nach dieser intensiven Beziehung, die Colin ihm aufgedrängt hat, schnell ausgebrannt und alles ist vorbei.“ (S. 109)

„Shaver und Hazan

Sie sind der Ansicht, dass ungefähr 55 Prozent der Männer, die dir begegnen, mehr oder weniger damit einverstanden sind, eine Partnerschaft einzugehen. Ungefähr 25 Prozent verhalten sich distanziert, haben Angst davor, mit all ihren Fehlern erkannt zu werden, und mögen es nicht, wenn ihnen jemand zu nahe kommt. Ungefähr 20 Prozent werden von Ängsten geplagt, dass man sie jederzeit verlassen könnte, und fühlen sich nie ausreichend geliebt.“ (S. 129)

„Eine der wichtigsten Fähigkeiten bei der Paarbildung ist das Gespür für die wechselnden Bedürfnisse des anderen nach Nähe und Abstand. Wir alle wollen geliebt werden, doch zu viel davon kann das Gefühl auslösen, erdrückt zu werden. Es ist äusserst ungewöhnlich (vielleicht sogar chemisch ausgeschlossen), dass zwei Menschen einander zur gleichen Zeit mit dem gleichen Eifer lieben.. Jeder braucht ein Gefühl für sich selbst und Zeit zum Nachdenken. Wenn du weisst, wann du dich emotional annähern und wann du Abstand halten solltest, wird bei dir und deinem Liebsten das Gefühl, in der Beziehung ersticken, gar nicht erst aufkommen.“ (S. 171)

Vor allem in der Anfangsphase setzen sich die meisten darüber hinweg. Sie wundern sich dann über merkwürdige Reaktionen und unerklärliches Verhalten. Es empfiehlt sich eben schon, etwas über sein „Leiden“ nachzudenken…

Christopher: „Bi-Männer können Schwulen das Herz brechen; ich glaube nicht, dass sie sich darauf einlassen sollten. Sozial und emotional brauche ich eine Frau um mich und sexuell brauche ich eben auch Männer. Wenn ich eine Frau in den Armen halte und Liebe mit ihr mache, dann habe ich das Gefühl, Macht zu geben. Bei einem Mann ist es genau umgekehrt; ich habe das Gefühl, Macht zu gewinnen, mich neu aufzuladen. Es wird aber immer einen letzten Rest geben, bei dem Männer nicht mithalten können.“ (S. 141)

Für die meisten Bisexuellen ist Homosexualität der Ausflug in die Geilheit. Geborgenheit und Gefühle haben sie ja schon bei den Frauen. Und sie glauben – als hetero Erzogene, dass da Männer „nicht mithalten können“! Nur selten geben sie das zu. Aber an Texten wie: „Ich habe eine Partnerin, und das soll sich auch nicht ändern“. Ist das deutlich zu erkennen. Vor allem die Wörter „nicht ändern“ sollen signalisieren, dass man bei ihnen nur ein Abenteuer sein kann. Liebe ist nicht erwünscht. Höchstens etwas Freundschaft. Dann ergeben sich auch etwa regelmässige Kontakte.

Die Treue ist ein wichtiges Kapitel in Beziehungsratgebern. Spätestens daran scheiden sich die Ansichten von Autoren und Lesern.

„Ihr seid zwei Männer, die sich lieben. Ihr wisst alles über die besonderen Bedürfnisse und die empfindlichen Stellen des anderen, ihr wisst, was ihr wo machen müsst, um den anderen in den siebenten Himmel zu bringen. Ihr wollt beide den anderen auf den Gipfel körperlichen Vergnügens treiben, und ihr habt euch gegenseitig Dinge beigebracht, um genau das zu erreichen. Ihr seid nun so lange zusammen, dass die Angst vorm Versagen und all die Unzulänglichkeiten, die wir an uns wahrnehmen, verschwunden sind. Ihr denkt vielleicht: Sex mit Fremden ist nichts im Vergleich hierzu; warum also sollte ich mich damit abgeben?“ Ihr könnt aber auch denken: „Sex mit Fremden ist nichts im Vergleich hierzu; warum also sollte ich eifersüchtig sein?“ (S. 198)

Ich habe grundsätzlich nichts dagegen, wenn es Menschen gibt, die monogam leben wollen. Jedes Paar hat nun mal in der Anfangsphase keine grosse Lust, ausserhalb der von ihm als Beziehung betrachteten Konstellation Sex zu suchen. Doch meistens geht vergessen, dass wir heute nicht mehr nur 40 oder 50 Jahre alt werden, sondern 80 oder gar neunzig. Und seien wir doch ehrlich: Das kann sich keiner mit zwei Männern richtig vorstellen.

Ich befürchte, dass der Wunsch nach gemeinsamer Treue und Unselbständigkeit und die Angst vor Machtverlust über den Partner wohl tausendmal grösser ist, als die reale Einsicht, dass dieser Wunsch eigentlich der Suche nach einer Sternschnuppe gleicht, oder dem grossen Los im Lotto. Klar einige ziehen es bestimmt. Aber daran sollen sich alle Anderen halten, auch die ohne Sternschnuppe und Los?

Ich denke, wir haben im Alltag und in der Kultur noch genug anderes zu leisten, als uns solche Sysiphos-Arbeit aufzubürden und uns gegenseitig mit Treueforderungen zu überanstrengen. Besser wäre – nach meiner Ansicht – sich mit seiner real existierenden Eifersucht auseinanderzusetzen. Diese wiederum ist die Folge unserer Minderwertigkeitskomplexe. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass meine Gefühle bei einer Trennung oder Eifersucht so ziemlich die gleichen waren, wie nach einer Insolvenz jahrelanger Geschäftstätigkeit. Einfach unterschiedlich interpretiert – aber gleich gefühlt.

Ich plädiere auch dafür, sich den Realitäten zu stellen, statt Wunschpakete auszupacken und vor Überraschungen und Krisen in Dramas über einstürzende Glaubensgebäude abzugleiten.

Natürlich erleben wir einen erheblichen Druck von seiten unserer heterosexuellen Familie und Freunde: „Eine Mutter sagte zu dem Therapeuten John Driggs: „Ich möchte mich nicht zu sehr an die Freunde meines Sohnes gewöhnen, solange ich mir nicht sicher bin, dass die Sache auch eine Weile hält. Es ist sehr anstrengend, erst jemanden kennenzulernen und ihn zu mögen, und ein Jahr später weiss man, dass man ihn nie wiedersehen wird, weil die Beziehung zu Ende ist.“ (S. 213)

Ich finde das ein schönes Beispiel für „weibliches“ Denken! Männer lernen eben in ihrer Aussenwelt generell viel Leute kennen, die sie dann nicht mehr, oder nicht mehr so oft, sehen. Aber daran dürften berufstätige Frauen auch nicht mehr vorbeikommen heute. Von den Lehrerinnen mit ihren Schülern und Schülerinnen gar nicht erst zu reden. Hier kommt auch der Nützlichkeitswahn vieler Frauen zur Geltung: Immer darauf aus, für das was sie gibt, auch noch mindestens etwas mehr zurückzubekommen, weil frau sich sonst ausgenutzt, oder gar missbraucht fühlt. Nicht alle sind so, aber doch viele richten sich in einer ihnen fremden Männerwelt so darauf ein. Und nicht wenige Homosexuelle machen sich das zu eigen…

Andererseits unterscheiden wir uns doch häufigst in Kleinigkeiten von den Heteros, ohne dass wir das selber so wahrnehmen: „Zusätzliche Probleme bereiten die Gegelegenheiten, bei denen dir öffentliche Zuneigungsbekundungen Unbehagen bereiten. Beim Anstehen an der Kinokasse streicheln, küssen und umarmen die Heteropaare sich ständig – wir tun das in der Regel nicht, egal wie lange und fest wir zusammen sind.“ (S. 213)

Abschliessend weist Nelson mit Recht darauf hin, dass zwischen Heteropaaren vieles schon im voraus festgelegt ist, während schwule Paare darüber erst – nicht mal diskutieren – kommunizieren müssen. Eben ganz zu schweigen von der körperlichen Sprache (oben) bei den Heteros. Männer müssen im Grunde mehr reden miteinander als Frauen untereinander. Letztlich geht es darum, ob schwule Männer sich etwas neues bauen, oder sich gegenseitig in Vertrautes einschliessen wollen, was sie halt aus ihrer Herkunftsfamilie kennen. Meiner Meinung nach lohnt es sich durchaus, darüber ernsthaft nachzudenken und dabei nicht nur verschiedene Erfahrungen, sondern auch verschiedenste Männer kennenzulernen!

Peter Thommen (61), Schwulenaktivist, Buchhändler

 

Nelson, Craig: Er gehört zu mir. 290 S. Gmünder 2008, (vergriffen, noch antiquarisch erhältlich)