bücher sind keine bananen

Ich habe über dreissig Jahre lang meine Kunden dabei beobachten können, wie sie sich einem Buch annähern – oder auch den Magazinen und den DVDs.

Grundsätzlich – und unabhängig vom Alter – durchstreifen Männer, die auf Männer aus sind, die heterosexuellen Welten und Medien, um irgendwo auf ein Bild, einen Text oder eine Information zu stossen, die sie „verwenden“ könnten. Ausgeprägt war das zu Zeiten, als es „schwule“ Postkarten gab. Da haben eifrige Sammler alle möglichen Läden abgeklappert, um zu diesen Objekten in der so praktischen Grösse zu kommen.

In der heterosexuellen Wüste etwas Wasser finden, um sich zu erquicken, oder eine schöne Erinnerung, ein schönes Bild, das man mit nach Hause nehmen kann, um es zu besitzen. Selbst in Lokalen mit anderen Schwulen, oder mit einem Medienangebot, das sich speziell an sie richtet, pflegen Schwule wie in einem Warenhaus zu wandeln. Der kurze Überblick beim Eintreten verrät den Kenner: Diese habe ich schon gehabt, jene sind zu tuntig, zu alt oder zu jung, aber –  „für mich“ sollte es doch auch etwas geben!

So läuft es auf den ständig wechselnden Parties auch. Je grösser die Auswahl, desto höher die Chance, auf „den Richtigen“ zu stossen? Ich kannte Schwule, die sich schon früher nicht mit einer „Szene“ begnügten. Sie „machten“ die Badeanstalten, die Klappen, die öffentlichen Plätze unsicher, um Heteros aufzugabeln, die noch kein anderer Schwuler vor ihnen gehabt hatte. Der Schwulen waren ihnen zu wenige…

Noch jede Generation hat diese Verhaltensweise übernommen – bis zum heutigen Tag! Der entscheidende Punkt aber ist, wann dieses „Beuteraster“ aufgegeben wird – aufgegeben werden muss, zugunsten echter menschlicher Neugier auf ein interessantes Gegenüber, auf eine Überraschung in der Persönlichkeit, die nicht schon von vornherein – nur das eine hinten hinein – oder vorneherum das Ritual festlegt, das einem ein Lustobjekt, oder einen Fetisch zum Geniessen zuführt. Wo nicht der augenblickliche Erfolg befriedigt, sondern wo ein Bewusstsein für Community, oder für Entdeckung und Überraschung für etwas ganz anderes, einen zum Ausgehen treibt.

Ich vergleiche das gerne mit einem Kreuzworträtsel, das eigentlich immer die gleichen Wörter in neuer Kombination erraten lässt. Erfolg durch Übung und Gewohnheit ist garantiert. Das Spiel, das auch die Heteros mit den Frauen spielen…

Dagegen ist ein Buch etwas ganz anderes!

Es muss entdeckt, erfühlt, erlesen werden – und mit ausdauern der Erwartungen. So wie es – heute – mit „realen“ Personen nur selten noch geschieht. Doch diesen Aufwand zu betreiben, dazu sind Junghomos immer seltener bereit. Entweder sofort alles – mit Heiratsversprechen und eing. Partnerschaft – oder dann gar nichts, oder nur um irgendeines hohen Zugeständnisses wille – oder nur den Quickie der nichts kostet. Bananen sind eine objektive Grösse, die allen als süss und sättigend empfohlen werden können. Aber ein Buch erschliesst seine Qualität erst mit dem realen Lesen. Und wie im Leben, ist der Erfolg eben nicht im voraus garantiert. Oder er ist ganz anders als erwartet.

Auch ich bin manchmal mit meinen Empfehlungen daneben. Aber das sehe ich erst hinterher, wenn der Leser (falls er) wiederkommt und mir ein Echo gibt. Aber dann hat er das Buch schon gelesen und bezahlt – auf MEIN Risiko natürlich! 😉

Ganz einfach machen es sich Leser mit der wichtigtuerischen Frage: „Muss man das gelesen haben?“ So wie ein Spiessbürger fragt, ob er diesen oder jenen unbedingt kennen sollte, weil es für ihn Vorteile bringt – welche Leute das sind, das ist ihm vorab egal.

Keiner kann alle Bücher „vorher“ lesen, um dann zu wissen, was er „nachher“ hätte gelesen haben müssen! Diesen Umstand machen sich zB Buchversandfirmen zu nutze, indem sie einfach die Werbetexte von Verlagen übernehmen – für die sie ja nicht verantwortlich gemacht werden können – und das Risiko den Käufern zuschieben. Auch der Hinweis auf Bücher, die von Käufern „auch noch“ bestellt wurden, ist nutzlos, denn vielleicht hat er diese gar nicht für sich selbst bestellt. Da ist guter Rat teuer – im doppelten Sinne.

Mit den Büchern ist es wie mit den Menschen. Keiner ist für alle empfehlenswert und doch kann er diesem und jenem etwas bringen. Das geht nur durch reale Erfahrungen und deren Tausch. Durch Gespräche und Argumente. Werbung ist wie Partyklatsch und Kritiken wie üble Nachrede. Was dem einen auf den Leib geschrieben ist, ist für einen Anderen wie Klopapier. In Bananen kann man einfach hinein beissen und weiss sofort, ob sie süss und appetitlich sind.

Ein Buchladen ist kein Warenhaus, das man „er – leben“ und wo man einfach nur wählen kann – aus tausend Dingen, die jedem etwas bringen. Schon oft hatte ich die Fantasie, eine Turnhalle zu mieten und ein paar Lastwagen mit Pornos darin abzuladen. Dann Schwule darin einzuschliessen und sie wühlen zu lassen. Ganz bestimmt würden sie erst aufmerken, wenn sie auch das unterste Bild im grossen Haufen endlich haben sehen können! 😉

Es gibt Leute, die treten in meinen Laden ein, fangen links unten bei der Türe an und hören erst wieder rechts oben vor dem Ausgang auf. Sie kommen still und gehen – meistens fragenden Gesichtes – wieder hinaus. Da war leider nichts zu finden, das sie angelacht, oder angemacht hätte. Dabei vermitteln solche oft das Gefühl, als hätten sie ein Recht auf etwas, das sie selber nicht zu wissen glauben, aber von Anderen erwarten dürften.

Nicht jeder mag angesprochen und gefragt werden. Aber wenn er denn nur preisgibt, was er vorher gelesen und ob es ihm gefallen hat, dann ist da schon ein Weg zu anderen oder ähnlichen Büchern vorgespurt. Ob einer „vorher“ überhaupt etwas gelesen hatte? Mir kommt es auch immer wie ein Abenteuer vor! Hat einer alles angeguckt und steht enttäuscht vor dem Regal. Dann wag ich, ihn zu fragen. Und manchmal hat einer letztlich mit mir zusammen zu einem Text gefunden, den er gar nicht gesucht hatte.

Doch wie soll sich ein Gespräch entwickeln, wenn die Kommunikation gestört und das Abenteuer nur im Beutemachen zu finden ist? Wie ist ein Mensch zum Reden zu bringen, so dass er wiederum und seinerseits davon profitieren kann? Es ist bei Büchern und Menschen gleich: Nicht immer ist drin, was draufsteht!

Da erinnere ich mich nostalgisch an die Anfänge im Elletlui, wo der Barman mit allen sprach und nebst dem Getränk auch noch seine Wünsche nach und nach erfahren hat. Gar mancher Gast ist da vermittelt worden und ist am Ende des Drinks zu zweit hinausgegangen. Und manchmal geht ein Kunde auch mit zwei oder drei Büchern wieder zum Laden hinaus, weil ich – zufällig – von ihm erfahren habe, welcher Art von Leselust sein „Fetisch“ ist! Die Freude verdoppelt sich.

Doch ich fürchte, diese Bereitschaft – und die Fähigkeit dazu, nehmen nur ab. Und die „Therapie“ des Buchhändlers wird endlich durch die Werbung völlig ersetzt. Das Buch prostituiert sich selbst an seine Leser. So wie es die Menschen schon lange gegenseitig tun.

Peter Thommen, Buchhändler_62

Veröffentlicht unter Allgemein | Schreib einen Kommentar

Eine starke Frau und ein kindlicher Liebhaber

Zum Verständnis der Geschichte: Im Januar meldete Blick die Story einer Handballtrainerin, die sich auf ein Verhältnis mit einem ihrer Schüler eingelassen hatte, damals 13 Jahre alt. Die Frau erhielt von der österreichischen Justiz wegen Verführung eines Minderjährigen 22 Monate auf Bewährung. *

Renata Juras hat als betroffene „Täterin“ ein Buch geschrieben, in dem sie auf ihr LehrerIN-Schüler-Verhältnis eingeht. Wir sollten davon ausgehen, dass der Text nicht identisch ist mit den Strafakten. Ich schildere daher auch nur meinen persönlichen Eindruck über einen sicher sorgfältig edierten Text.

Als Schwuler ist mir aufgefallen, wie sehr die Lehrerin eine männliche Rolle spielt. Ob das etwas mit ihrer kroatischen Herkunft zu tun hat, sei mal dahingestellt. Für einen Jungen kann das eine „queere“ Funktion bekommen. Ich meine damit eine Dimension über die Geschlechtsrolle hinaus ins Spekulative. So wie meine Freundschaften zu älteren Frauen eine Alternative zu meiner Mutterbeziehung waren und sind – neben meiner homosexuellen Orientierung.

In der Geschichte wird anfangs nur erzählt, dass die Mutter des Jungen einen Freund hat. Sein Stiefvater ist abwesend und kommt erst am Ende ins Spiel. Bis zur Mitte des Buches verläuft alles „normal“ und zufällig. Bis sie auf klare Signale des Jungen stösst. Interessant ist, wie sie diese interpretiert. Bald klärt der Junge bei seiner Mutter ab, ob sie etwas gegen diese Beziehung habe. Viele Heteros finden alles auch relativ „normal“ – abgesehen vom Alter des Liebhabers vielleicht. Erst um das neunte Kapitel herum kommt die Autorin auf ihre persönlichen Beweggründe und Leidenschaften zu sprechen.

Aus der männlichen Perspektive ist es nicht gut, wenn ein Junge von seiner Mutter an eine andere einfach „weitergereicht“ wird. Vor allem, wenn auch in der Freizeit eine Frau die dominierende Bezugsperson spielt. Die nicht unbedingt bewusste allgemeine Homophobie in den Familien erleichtert das. (Ich las darüber eine witzige Kolumne) Mir erscheint alles wie ein stummer „Pakt unter Frauen“.

Begeisterte Leserbriefe zu solchen „Liebesverhältnissen“ in der Presse und online, bestätigen mir auch, dass Freud seinen Ödipus nur nach den Äusserlichkeiten formuliert hat. Nach seiner hetero Theorie begehren die Kinder jeweils ihren verschieden geschlechtlichen Elternteil. Aber der „innere“ Anteil der erotischen Dynamik wird dabei übersehen. Wenn doch Kinder wirklich „unschuldig“ sein sollten, dann müssen sie von den Eltern – oder eben dann von den „bösen Pädophilen ausserhalb sexualisiert“ worden sein, wie das Frauen immer monieren – aber zwischen der Homo- und der „heiligen Heterosexualität“ einen grossen Unterschied machen. Als Schwuler stehe ich da ausserhalb und kann nur Fragen stellen. Solche, die sich die ältere Geliebte offensichtlich niemals stellen musste.

Wenden wir uns also der Sichtweise der Autorin/Täterin zu. Von Sex war bisher noch nicht die Rede, nur von Ahnungen, von überwältigenden Gefühlen! Sie schildert ihre inneren Beweggründe, warum sie sich auf den Jungen eingelassen hat, wie folgt.

„Ich wusste lange genug, dass ich diesen Jungen liebte. Dieser Kuss war wie die Antwort auf die Frage, ob unser Traum doch Wirklichkeit sein konnte.“ (S. 85)

„Er war zärtlich, klar und offenbar wild entschlossen. Wieder fühlte ich mich jünger als er, im Ungewissen, was nun passieren würde. Er liess meine Hand nicht los und ich fühlte den Puls in seinen Fingerspitzen. Ich wusste, wie alt er war, aber ich wusste in diesem Moment nicht, dass das Gesetz unsere körperliche Liebe verbot. Ich wusste, dass er zum ersten Mal mit einer Frau zusammen war. Ich wusste dass er mein Spieler war. Aber ich spürte nur einen Mann und eine Frau.“ (S. 85)

Aus dem bisherigen Buchtext geht nicht hervor, dass sich die beiden über ihre Vergangenheit ausgetauscht hätten. Sie konnte eigentlich nichts davon wissen. Oder erst im Nachhinein. Und das mit dem Gesetz musste sie – wenn nicht als Mutter oder bereits Ehefrau – wenigstens als Trainerin wissen –  sie hatte es einfach verdrängt. Aber soweit geht ihre textuelle Offenbarung nicht.

„Ich spürte, wie Tränen aufstiegen, fühlte mich vollkommen verletzlich, ausgeliefert und unsicher. Ich war siebenundzwanzig Jahre älter als Ervin. Diese Realität traf mich härter als in den letzten Tagen.“ (S. 86)

So wie sie oben nur Mann und Frau spürte, so übernimmt sie auch hier – trotz ihrer männlichen Trainer-Rolle und ihrer persönlichen Dominanz – die verletzliche Mädchenrolle, wie es ihr in der Heterosexualität zusteht. Sie redeten bei alle Treffen eigentlich „nicht viel“.

„Als ich zur Tür hinausging, wusste ich, dass Ervin aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken war.“ (S. 87)

Als Schwuler staune ich immer wieder, wie überzeugt Frauen über Männer dies und jenes „wissen“. Und für fast alle Frauen gibt es eben nur Männer – keine Schwulen, oder wenigstens Bisexuelle. Und als Schwuler, der auch sehr viel mit heterosexuell orientierten Männern Sex hat (lieben wäre für sie zu schwul!), weiss ich und lese ich immer wieder in Foren, wie unverstanden sie sich oft von Frauen in ihrer Sexualität fühlen. Eigentlich ist es eben „nur ein Spiel“.

Jungs – und um die geht es mir, weil Mädchen höchstens als eigenes Rollenspiel bei der Täterin hier auftauchen, wollen in erster Linie so sein wie Erwachsene. Diese Rolle wird ihnen auch sozial und familiär aufgetragen. Und Renata gesteht diese ihrem kindlichen Liebhaber sofort zu. Noch bevor sie wirklich wissen was sie selbst wollen, wollen Kinder „den gleichen Sex“ nachmachen wie die Erwachsenen, die ihn aber wiederum für sich reserviert haben. Den „richtigen“ Sex. Aber der ist normalerweise in der Familie nicht und ausserhalb nur schwer zu haben. Es kommt eher vor, dass der Vater mit seinem Sohn zu einer „Fachfrau“ geht und diese auch noch bezahlt. Mütter gehen eh mit ihren Söhnen nirgendwo hin, sie würden sonst eifersüchtig. Solche Gedanken bewegen mich beim lesen dieser Geschichte. Es gäbe wohl noch mehr anzuführen…

Bald folgt der offizielle „Treff der Mütter“:

„Ich versuchte, mich in ihre Lage zu versetzen. Wenn meine Tochter Emily in einen einundvierzigjährigen Mann verliebt gewesen wäre, wäre ich mit Sicherheit ausgeflippt und hätte den Mann zum Teufel geschickt. … Ein Mann, auch wenn er jung ist, weiss besser, was er will. Und vor allem weiss er ganz genau, was er nicht will.“ (S. 91/92)

Das vermisse ich oft bei Gerichtsberichten über Knaben, die von Männern „sexuell missbraucht“ worden sind. Im Grunde genommen ist die Homosexualität ja schon der sexuelle Missbrauch. So einfach ist das. Und was ist mit den schwulen Männern, die sich als Junge erst in die Heterosexualität mit Frauen verirren?

Die Schwiegermutter: „Weisst Du, Renata, ich habe die ganze Sache wahrscheinlich schon viel früher bemerkt als du. Ich habe euch ja oft genug beim Training zugesehen. Ervin hat dich ständig mit seinen Blicken verfolgt.“  (Wie aufmerksam!)

Judith hatte unsere Liebe tatsächlich früher erkannt als Ervin und ich. Aber schliesslich war sie seine Mutter. Ich wusste nur zu gut, wie es sich anfühlt, wenn man sein Kind liebt und kennt.“ (S. 92)

Als Schwuler ist mir schon längst klar, dass Mütter die homosexuelle „Orientierung“ ihrer Söhne erkennen müssen, „wenn sie sie lieben“ (?). Doch die meisten geben auf Befragung an, sie hätten keine Ahnung gehabt. Wenige schweigen sie tot und einige wehren sich wie Löwinnen dagegen. Und auch in dem Buch über die Frau und den Jungen schwebt eine Stimmung von: Worüber nicht geredet wird, das kann es nicht geben. Drum hat die Täterin ja auch ein Buch geschrieben – weil es ihre Liebe geben soll. Und das ist auch gut so! Und worüber darin nicht geschrieben wird, das hat es auch nicht gegeben. 😉

„Und habt ihr euch schon geküsst?“ fragt eine Tochter von Renata bei der kritischen Familienkonferenz zuhause.

„Ich lächelte verlegen und nahm meine beiden grossen Mädchen fest in die Arme. Wir waren nicht länger nur zwei Generationen von Frauen, sondern drei Frauen, die die gleiche Sprache sprachen.“ (S. 98)

Es war im Buch natürlich nie die Rede davon, dass Knaben und Frauen NICHT die gleiche Sprache sprechen! Und jetzt endlich kommt ihr „Noch-Ehemann“ ins Spiel. „Wäre meine Familie dagegen gewesen, hätte ich mich gegen meine Liebe entschieden.“ (S. 99)

Ihr Noch-Ehemann nahm die Sache gefasst und fragte sie nur, ob sie glücklich sei. Und hier endlich werden Schuldgefühle sichtbar: „Ich bin sehr glücklich, aber ich habe Schuldgefühle.“ Und nachdem er weiss, wer es ist: „Denkst du jetzt, ich bin eine Rabenmutter?“ (S. 108)

Schön, wenn die eigenen Töchter, der eigene Noch-Ehemann, nahe Bekannte, die „Schwiegermutter“ alle einem nicht den Krieg erklären, wie das bei einem gleichgeschlechtlichen Verhältnis garantiert der Fall wäre. Doch da waren noch Familienangehörige der anderen Familie einzuweihen. Der Stiefvater von Ervin hatte gefragt, ob sie beide schon miteinander geschlafen hätten. (Im Buch ist bis hierhin immer noch nichts Sexuelles erwähnt worden).

„Ervin sah mich nun direkt an. Ich stieg versehentlich kurz auf die Bremse und das Auto hoppelte. Und? Nichts. Ich habe die Wahrheit gesagt.“ (S. 114)

Der Stiefvater und die Liebhaberin sind sich nicht sympathisch. Das hatte sie schon vorher irgendwie gespürt. Es war nett, dass man sich mal in einem Café und kurz vor einem Training kennengelernt hatte. Dieser Stefan erstattet dann auch Anzeige. Es war ja eigentlich auch Pflicht für ihn. Die Frauen alle dachten gar nicht erst an so was.

Die Einvernahme soll etwa eine Stunde gedauert haben. „Ich habe die Wahrheit gesagt, wie du mir geraten hast. Ich sagte, dass es stimmt“. Er sah mich mit trotziger Miene an. „Ich habe ganz ruhig gesagt, dass wir zusammen sind und dass wir Sex gehabt haben.“ Dann hat die Frau noch gefragt, ob Zwang oder Gewalt im Spiel waren. Da hab ich natürlich verneint.“ Ervin sah abwesend und nachdenklich aus. Er zögerte kurz. „Da hab ich deutlich gespürt, dass sie mir in dem Moment nicht richtig geglaubt haben.“ (S. 129)

Wir erfahren erstmals am Ende des zweiten Drittels des Buches, dass die beiden auch Sex gehabt haben. Doch nur über den Umweg über die Aussage Ervins vor der österreichischen Polizei. Hier erinnere ich mich an Jungs, die niemals so lange warten könnten, bis sie zu ihrem Sex kommen. Mein Ex hätte niemals so lange gewartet – im Alter von 15 Jahren. Und die Jungs sind mit Eifer dabei, ihr Können zu erproben oder zu beweisen. Auch mit Männern! Aber für diese Frau und andere zählt nur die Liebe, die nirgendwo als „unsere Liebe“ formuliert worden ist, soweit ich mich erinnere.

Ja, ich weiss, es gibt immer Ausnahmen. Was sagte nun die Mutter des glücklichen Jungen vor der Polizei aus? „Na ja, als sie Mama gefragt haben, warum sie das mit uns erlaubt hat, hat sie gemeint, dass sie nichts dagegen tun kann und will, wenn ihr Sohn sich verliebt. … Dass sie mich nicht rund um die Uhr einsperren und beobachten kann. Sie hat gesagt, dass sie es vorzieht, offen mit mir zu reden und so eine gewisse Kontrolle zu behalten. Ervin nahm meine Hand. „Am Schluss hat sie noch gesagt, dass sie die Anzeige von Stefan dumm findet.“ (S. 130)

Das Liebespaar wusste angeblich nicht, dass ihre „wahre Liebe“ von Gesetzes wegen strafbar war. Mich erstaunt nur, dass es bei homosexuellen Liebesverhältnissen immer alle wissen! Immerhin darf Frau in Österreich  ab 14 Jahren schon Liebhaber haben, sowohl männlichen als auch weiblichen Geschlechts. Für Männer war es lange Zeit höher. Und die „Gleichbestrafung“ musste schwer erkämpft werden.

„Ervin wollte für mich da sein. So sollte es sein, fand ich, ein Mann sollte seine Frau beschützen wollen. Ich wusste, dass Ervin genau darunter leiden würde: Mir nicht helfen zu können. Es würde ihm seine Machtlosigkeit vor Augen führen und seine Schuldgefühle übergross werden lassen. Er fühlte sich für die Situation verantwortlich.“ (S. 132)

Als Schwuler kann ich nur feststellen, in gleichgeschlechtlichen Verhältnissen gilt all das nicht. Es geht dort vor allem darum, den Jungs beizubringen, dass sie in jedem Fall sexuell missbraucht worden sind. Aber eigentlich geht es darum, dass nicht politisch richtig gefickt wird. Und da kann dann auch kein Verständnis aufkommen für eine „wahre Liebe“, die nicht weiss, dass sie dafür bestraft wird. Wenn Renata sich fragt, warum Stefan (der Stiefvater von Ervin und Anzeigensteller) „so etwas tut“, so fragen sich viele heterosexuelle Frauen bei homosexuellen Verhältnissen genau umgekehrt: Warum sollte frau „so etwas nicht tun?“ Immerhin dachte die Täterin darüber nach, „dass Stefan vielleicht Angst davor hatte, seinen Sohn an mich zu verlieren.“  (S. 135) Frauen sind sich immer ganz gewiss, dass sie ihre Söhne – an Männer – verlieren…

Es blieb noch das Gespräch mit der Fussballmannschaft. „Jungs, hört mal zu, begann ich, „ich möchte mit euch reden, aber nur mit den älteren Spielern. Die Kleinen können schon gehen.“ Ich wollte nicht, dass die Jungs Jahrgang 99 und 2000 mit dieser Geschichte belastet wurden.“ (S. 137)

Tja, die grossen Jungs werden es den Kleinen wohl voller Stolz erzählt haben. Wie kann Frau nur so naiv denken und handeln? Und die kleinen Jungs sind ja auch nicht blind. Werden aber gerne von Müttern dafür gehalten. Nichts desto trotz macht es sie glücklich, dass Ervin dann ein Kind von ihr will und dass die Liebe über alles gesiegt hat.

Bei fast allen homosexuellen Liebesverhältnissen siegt aber das Gesetz. Und dabei ist egal, ob es die grosse Liebe, das Erstemal oder Unkenntnis war.

Peter Thommen_62

 

Renata Juras: 41 und 14, edition a, Österreich, 184 S. CHF 24.-

 

* Fortsetzung der Vorbemerkungen:  Weitere Fälle wurden von Blick als „Sex-Lehrerinnen“ bezeichnet und nur ein Fall enthielt die Bezeichnung „Kinderschänderin“. Aufgefallen sind mir Leser-Reaktionen darauf, die schon immer von solchen Partnerinnen in der Jugend geträumt haben wollen…

Zum Verständnis des Autors dieser Besprechungs: Ich bin 62 Jahre alt, von Kind an homosexuell und dann konsequent schwul. Das hielt mich aber nicht davon ab, mich in die Lehrerin des ersten Schuljahres und diejenige des letzten Schuljahres ein wenig zu verlieben. Meine Grossmutter war meine erste alternative Mutter und seit etwa 40 Jahren hatte ich immer wieder zufällige Freundschaften mit älteren Frauen. Mehr nicht.

Anfangs 30 hatte mich ein 15jähriger Junge angemacht und ich war etwa 2 Jahre mit ihm zusammen. Meine Präferenz ist bei Anfang 20…  Ich selbst hatte nie Sex mit älteren Männern oder Frauen.

Es wird immer nur über „Pädophilie“ geschrieben – es muss auch die Gerontophilie von seiten der Jüngeren geben, wir können nicht alles einfach im „sexuellen Missbrauch“ entsorgen.

Dalida, ein bewegendes Lied über einen 18jährigen Liebhaber (es war ursprünglich ein 16jähriger)

Alles wird gut, wenn der Knabe und seine Liebhaberin ein Kind erwarten!

Hier live auf youtube, mit dem gemeinsamen Kind – als Beispiel zusammen mit anderen jung mit ältere  Verliebten.

———————————————————

Ein weiteres Buch zum Thema ältere Frau – jüngerer Liebhaber (im gesetzlich erlaubten Bereich)

Alissa Nutting, Tampa (HoCa 2013)  Eine junge Frau jagt 14jährige Jungs. Sie tut dies letztlich als „Phantasie“ ab und bleibt unbehelligt!

Veröffentlicht unter Heterosexualität, Männlichkeit | 4 Kommentare

«Brokeback Mountain» als “biblischer” Sündenfall

Viele haben den Film gesehen und wurden darin bestätigt, dass Liebe und Sex zwischen Männern sehr schön sein kann, dass sie aber in unserer Kultur keine Chance, respektive keinen Platz hat…

Doch in dem Film wird nicht nur die Sexualität „überspielt“, der Regisseur Ang Lee spielte auch mit den Urkonflikten aus der Bibel. Dies gesehen und beschrieben hat Kathrin Geyh, eine junge Filmemacherin. Studium der Kommunikationswissenschaften und Arbeit bei Amalia-Film.de

Sie kann sich wiederum auf zahlreiche Besprechungen und Kommentare über den Film stützen. „Das Buch „On Brokeback Mountain“ von Eric Patterson umfasst sieben Essays, in denen die Themen des Films, wie gleichgeschlechtliche Liebe, Homophobie oder gesellschaftliche Repressionen in einen kulturgeschichtlichen Kontext gesetzt werden. Die fünfzehn Aufsätze unterschiedlicher Autoren, die Jim Stacy in „Reading Brokeback Mountain“ zusammenstellte, behandeln zusätzlich die filmrezeptorische Ebene und stellen dar, welches Publikum auf welche Art und Weise und warum kontrovers oder befürwortend auf den Film reagierte; oder wie sich bei den Zuschauern das Image homosexueller Männer dadurch veränderte, dass Ennis und Jack mit Heath Ledger und Jack Gyllenhaal besetzt wurden.“ (Aus der Einleitung)

Sie geht den Beweggründen, Handlungen und Emotionen des Films nach und sucht die Symbole in den biblischen Geschichten von Genesis und im Sündenfall. Sie erkennt ganze Handlungsstränge des Films darin wieder. Dies gibt dem Film eine zusätzliche Tiefendimension, die auch bei Fundis und Konservativen heftige Gefühle auslösen musste.

Die Autorin bietet anfangs eine kurze Übersicht der Handlungsgeschichte des Films und schliesst daran eine Rezeption der biblischen Aussagen, die sie heranzieht. Beim Brudermord der ersten Kinder stellt sie fest: „… doch da Kain und Abel eben nicht Adam und Eva sind, kommt die Übertragbarkeit ihrer Geschichte auf den Film an eine deutliche Grenze“. (S. 27)

(Nachdem ich eine „Lange Nacht“ über Totem und Tabu bei Deutschlandradio verfolgt habe, über Vatermord und Sohnestod, am Beispiel von Abraham und Isaak, sowie Gott und Jesus und den damit verbundenen Erlösungswünschen, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass die „Bruderliebe“ – sozusagen in der zweiten Menschheitsgeneration – noch einbezogen werden sollte…

Homosexuelle Männer („warme Brüder“) trugen ja offensichtlich ein „Kainszeichen“.) Alles Männergeschichten aus der Urzeit – nicht zu vergessen die noch ältere Liebe von Gilgamesch und Enkidu.)

Es ist faszinierend, neue Zusammenhänge dazu zu finden, gerade für die aktuellen Diskussionen mit der Kirche und mit den „religiösen Wurzeln des Tabus Homosexualität“ (John Lauritsen, 1974/1983 dt). Dabei geht es im Wesentlichen um Männerbeziehungen, nicht um ausschliesslich homosexuell definierte!

Geyh stellt ihrer Arbeit eine Darstellung des Sündenfalls anhand von Gemälden der Kunstgeschichte voran. Dann geht sie auf die Allegorie ein, die sie – oft unterbewusst – aktivieren. (Uns vertrautes Beispiel: Die weibliche Helvetia als Allegorie/Symbol der Schweiz, oder die Frau mit der Zipfelmütze für Frankreich) Im zweiten Teil des Buches dann nimmt sie sich die Elemente dieses Sündenfalls einzeln vor und liefert die Bibelzitate gleich mit. Im letzten Viertel zitiert sie interessante Texte verschiedener Autorinnen und Autoren.

„In Brokeback Mountain wird nun eine homosexuelle Beziehung in die Natur platziert und erzählt, dass die Protagonisten ihren wahren Gefühlen entsprechend leben können. Dadurch entsteht eine neue Gruppierung. (PT, ich würde es als Wertung bezeichnen)

Wo es vorher hiess: natürlich = gut, wird im Film etwas mit „natürlich“ in Bezug gesetzt, was von einer Mehrheit der konservativen Gläubigen – im Judentum, Christentum und Islam – als nicht gut deklariert wird. Die neue Paarung im Film lautet also: Homosexualität = natürlich (ihr Ort ist die Natur), Heterosexualität = unnatürlich (die Protagonisten heiraten später in der Stadt, PT). Das muss für Kontroversen sorgen.“ (S. 56)

„Es stellt sich die Frage nach der Gesamtaussage der zwei Geschichten. Welche Haltung offenbart der Film und was soll der ‚Sündenfall’ nachfolgenden Generationen mitgeben?“ (S. 135)

Während die aktuelle „queer“-Diskussion – unter dem Eindruck von Homo-Ehe und traditioneller Zweierbeziehung dazu neigt, homosexuelle Kontakte ihrer Exklusivität zu entkleiden, um sie „unsichtbar“ zu integrieren, meint Geyh: „Denn es geht ja gerade nicht um einen Konflikt zwischen Gesellschaftsschichten oder Religionen, Jack und Ennis sind eben nicht Romeo und Julia. Sie sind zwei Männer, die einander lieben.

Mit Blick auf die Unfähigkeit, den Film als das zu benennen, was er ist, nähern wir uns seinem tatsächlichen Thema. Denn es fällt auf, dass auch die beiden Hauptfiguren Schwierigkeiten haben, das, was ist, zu benennen. Sie äussern sich nie wirklich dazu, was sie füreinander empfinden, sie sprechen ihre Emotionen kaum an, weder sich noch anderen gegenüber, gemäss dem Motto: So lange man es nicht äussert, besteht es nicht. Ennis kann nicht sagen, was er fühlt oder ist; er kann nur sagen, was er nicht ist.“ (S. 135-136)

…“Das macht deutlich, dass der Film hier weniger das Bild einer verurteilenden Gesellschaft zeigen möchte, sondern das Bild eines verurteilenden und gewalttätigen Ichs. Es geht um die fehlende eigene Akzeptanz; es ist die eigene Entwertung.“ (S. 136)

Und das ist es, was verheerende Auswirkungen auf die Psyche von Männern, Bisexuellen und Schwulen hat! So ein Liebesleben MUSS in der Scheisse enden. Wortwörtlich!! Es MUSS krank machen! Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung sozusagen. Und ich verfolge das auf vielen Profilen und in Diskussionsforen Bisexueller – seit über 10 Jahren!

Und bei Adam und Eva: „Aber mehr noch als ein soziales Regulativ ist die Gottesebenbildlichkeit für Gläubige ein Regulativ, das die eigene Haltung zu sich selbst bestimmen kann. Ihnen ist sie ein göttliches Schild gegen Minderwertigkeitskomplexe, gegen Aburteilungen des eigenen Inneren, eine göttliche Abwehr gegen die Unfähigkeit, sich selbst nicht lieben zu können. … im Gefühl, dass die Gottesebenbildlichkeit einer Schlechtheit gewichen ist; dass Gottes ursprünglich liebevoller Blick auf sie vernichtend ist, da ihr eigener Blick auf sich selbst vernichtend ist. So betrachtet erzählt auch der Text von den Konsequenzen innerer Ablehnung und trifft sich auch auf dieser Ebene mit dem Film.“ (S. 137)

Peter Thommen_62 

Kathrin Geyh: Das Helle braucht das Dunkle. Der biblische Sündenfall in „Brokeback Mountain“, Universitäts Verlag Konstanz 2011, 175 S. € 24.- / off. CHF 34.90

Siehe auch: Thommen, hallo „bisexueller“ Boy!

 

P.S. Miriam Daré weist in ihrer Besprechung einer Story-Szene, die nicht im Film vorkommt, auf weitere psychoanalytische Dimensionen hin. (Zschrf klass. PsyAnalyse, Heft 1, 2007, S. 66-79)  Es handelt sich um eine Erniedrigung und Gewalttat des Vaters Twist gegenüber seinem Sohn Jack: Er verprügelt und bepisst ihn auf dem WC, weil dieser daneben pinkelte. ( „Verpiss Dich!“ – wobei jeweils das Ich am Anfang fehlt… ) Dieser nicht so seltene Fetisch unter Männern erstaunt nicht. Die Handlung ist so tabuisiert, so dass sie auch im Internet nicht benannt wird! (Die Empfindung ist zugleich Wärme und Erniedrigung!)

Erstaunlich für mich ist, dass ich bis jetzt nur von Frauen gelesen habe, die sich diesem Diskurs stellten: Annie Proulx (Autorin der Geschichte), Kathrin Geyh, (Autorin des hier besprochenen Buches über die Geschichte) und Miriam Daré, die aus der Ecke der klassischen PSA schreibt. Männer haben sich nach meinem Wissen noch nicht daran gewagt? (Ausser Ang Lee, dem Regisseur)!  

Nachtrag: Siehe auch den interessanten Beitrag von Andreas Krass: Metrosexualität. Wie schwul ist der moderne Mann? Darin nimmt er einleitend Bezug auf Marks Simpson und den Film „Brokeback Moutain“ und bemerkt, dass dieser eine „heterosexuelle Veranstaltung“ sei und zwei heterosexuelle Männer eine homosexuelle Affäre hätten. Im Weiteren würden sich Heteros damit beweisen, wie tolerant sie doch heutzutage seien…  In: Queer Lectures, April 2008, S. 108-141

Peter Thommen_62, Buchhändler, Schwulenaktivist, Basel

 

Veröffentlicht unter Männlichkeit | 2 Kommentare

mit dem Bruder der Freundin…

Der Student Javier führt ein unbeschwertes heterosexuelles Leben und hat auch eine Freundin. Who cares? Doch diese hat einen jüngeren Bruder, der bald seinen Schulabschluss machen sollte und zuviel herumgelümmelt hat. Es ist Sommer. Es sind Ferien. Und es regnet auch mal.

An diesen langweiligen Nachmittagen heisst es für José, Verpasstes nachzuholen und zu pauken. Javier hatte sich entschlossen, dem Jungen das fehlende Wissen beizubringen und dieser war entschlossen, es doch noch zu schaffen. Doch die regelmässige Nähe und die Willensstärke der beiden Männer kombinieren sich zu einem dramatischen Kampf um Leidenschaft. Es geht um Schönheit, Jugend und die Macht der Anziehung. Für Schwule ist das die klassische Dramaturgie der Ungewissheit, der Überraschung oder Enttäuschung. Für Heteros bringt es Zweifel an ihrer Orientierung und ein schlechtes Gewissen gegenüber Frauen.

Abgesehen von zwei Sexszenen ist die Erzählung spannend aufgebaut. Der Autor führt den Leser schlau durch die Sehnsüchte verpasster Gelegenheiten, die keiner real wagen würde, zu ergreifen.

Luis Algorri: Du hörst von mir, Gmünder 2009, 200 S. CHF ca. 16.–

 

Als bewegter Schwuler allerdings frage ich: Hat sich in den letzten Jahrzehnten denn immer noch nichts geändert? Heteros suchen meistens im engeren persönlichen Umfeld nach heissen Kontakten und begeben sich in heikle Situationen. Klemmschwestern machens ihnen nach, weil sie nicht aus ihren Eierschalen herauskommen wollen. Muss es immer eine tolle Hochzeit sein, die vorab eine dauerhafte Ehe verspricht? Muss es immer „das Schicksal“ sein, das die Begehren offenbart?  Können es nicht auch Zufälligkeiten und spontane Offenheit sein, die Genuss und Befriedigung in die Ferien bringen? Da können Gefühle auch Platz haben und den Alltag bereichern. Vielleicht könnten sich dabei gewisse Heteros und Schwule auch real wiederfinden und ebenso leidenschaftlich Sex und Freundschaft erleben, statt Ausnahmesituationen zu missbrauchen und dann wieder alles zu verdrängen!

Möchtest Du mehr darüber lesen und nachdenken, dann schau auf meinem alten Blog! (weitere Texte unter dem Stichwort „bisex“!)

oder auch hier  Hallo bisexueller Boy! 

Veröffentlicht unter Männersex | Schreib einen Kommentar

Harare ist nicht Mauthausen

Tendai Huchu erzählt uns über einen Friesiersalon in Harare, der wie überall in der Welt ein reales Netzwerk von Menschen darstellt, worüber sie einander mitteilen, klatschen und helfen. Worüber auch Neid, Missgunst und Eifersucht laufen und worin sich manche Biografien kreuzen. In Afrika werden Frauen von Frauen und Männer von Männern frisiert. Als eines Tages ein junger attraktiver Mann auftaucht, der den Kundinnen schöne Augen und moderne Frisuren macht und den weiblichen Angestellten harte Konkurrenz, geraten die Gewohnheiten aus den Fugen. Der Autor schreibt aus der weiblichen Perspektive von Vimbai, die ein uneheliches Kind und einen Haushalt durchzubringen hat. Nicht leicht bei den desaströsen wirtschaftlichen Verhältnissen in Zimbabwe. Wie sehr sind die Leute auf Handreichungen und Beziehungen angewiesen, um überleben zu können! Als Klienten aus dem Staatsapparat und bald auch Ministergattinnen auftauchen, weil sie von dem neuen Coiffeur Dumisani gehört haben, beginnt der kleine Kosmos zu wackeln. Erfahrung wird beiseite geschoben, Ideen und Innovationen von Dumisani bringen das Geschäft zum blühen. Vimbai sieht sich und ihr Karriere in Frage gestellt. Trotzdem nimmt sie den attraktiven Kollegen in Untermiete auf, um etwas Geld dazu zu verdienen. Er kümmert sich auch rührend um ihre Tochter und ist ein rücksichtsvoller Wohnpartner. Beide haben Probleme mit der Familie, weil sie nicht in die Normen passen. Als Dumisanis Bruder heiratet, nimmt er sie als Freundin mit an die Hochzeitsfeier, wo sie von der „Schwiegerfamilie“ mit offenen Armen empfangen wird. Sie schwimmt im Glück, als man ihr zu einem eigenen Salon verhilft. Schon macht sie sich Hoffnungen auf eine eigene Familie, als sie zu forschen beginnt, welches Problem denn ihr Zukünftiger vor ihr verbirgt. In dessen Abwesenheit durchsucht sie sein Zimmer und findet unter der Matratze den Schlüssel zu dem Geheimnis. Als gläubige Frau sucht sie Rat bei einer Regierungsstelle und verwickelt sich in tragischer Weise mit dem Schicksal Dumisanis. Zu spät realisiert sie den Fehler, den sie verschuldet hat und bleibt schliesslich alleine mit ihrem Kind und ihrem neuen Salon zurück. Tendai ist eine schwungvolle Erzählung gelungen, die einem sofort in ihren Bann zieht und bis zum bitteren Ende nicht mehr los lässt. Sie hat mich sehr angerührt!

Peter Thommen, Buchhändler (61)

P.S. Mauthausen? Ach das war doch in der Zeit des Nationalsozialismus. Was geht uns das heute noch an? Lies die Geschichte mit Dumisani!

Tendai Huchu: Der Friseur von Harare, Peter Hammer Verlag 2011 (2010 Weaver Press, Harare), 300 S. ca. CHF 24.-

Aus einem email des Autors: „Brother Peter!! As your service comes to an end (61 is rather premature I say!) others will pick up the rainbow flag. I am glad you have enjoyed the book though causing tears was never my intention 🙂 Dumisani exists, there are hundreds of him in the shadows Peter, but if anything time is on the side of progress and tolerance. Perhaps in your retirement you shall visit Zimbabwe, there is GALZ the gay organisation... Trust me there is more work for you to do apart from reading books and getting fat! Thank you for your support and if I can be of any assistance please do let me know. Tendai

Besprechung von Klaus Jetz auf  lsvd.de

Besprechung in der FAZ vom 27.2.12 (PDF 0,9 MB)

Veröffentlicht unter Afrika, schwule Identität | Verschlagwortet mit , , , , , , , , | Ein Kommentar

Gelegenheit macht Liebe – und schwul?

Zwei Buchbesprechungen von Geschichten, die ich einer spezifisch weiblichen Sichtweise zuordne. Auch wenn die Schreiber schwule Männer sind!   Marty Tolstoy und Manuel Sandrino

Ein junger Mann schlägt sich mit Zeitarbeit und mit seiner Wohnpartnerin herum. Die beiden sind zwar kein Paar, könnten aber auch Geschwister sein. Diese beste Freundin versucht auch, den träumenden Jan fürs Zusammenleben tauglich zu machen, was ihr aber nicht so gelingen will.

Anlässlich eines Abendspaziergangs in die Schwulenkneipe – in einem vorstädtischen Ort – trifft Jan auf einen schönen Prinzen, der alle die Sehnsüchte in ihm weckt, die bisher wohl unbewusst in ihm geschlummert haben. Nach einem romantischen Tête-à-Tête-Tanz zu einem schmusigen Song verliert er ihn aber wieder aus den Augen.

Überraschend macht er bei einer Prügelei um seine Freundin wieder Bekanntschaft mit diesem Marco, der jetzt sein Leben mitbestimmt. Dieser hat ihr die Brieftasche geraubt, die er später findet und das bringt seinen Verehrer in schmerzende Gefühlszweifel und moralische Bedenken. Es wird ein coming out dieser Verliebtheit gegenüber dem Opfer – seiner besten Freundin – fällig. Der erste Band dieser Geschichte endet mit der unverhofften Begegnung als Zeuge vor Gericht und dann noch mit dem Besuch im Gefängnis.

Der zweite Band beginnt mit der ersten ernsthaften Arbeitsstelle für den Bürokaufmann, der immer noch im Haus seiner Freundin lebt. Nach der Vorstellung beim Chef steigt in ihm die beängstigende Ahnung hoch, dass der ehemalige Märchenprinz aus dem Knast ihn bei sich in der Firma angestellt hat. Und er muss sich gegenüber seinen Mitarbeiterinnen und der männlichen Konkurrenz bewähren. Durch eine mustergültige Präsentation erhält er Zutritt zum Marketing der Firma und stösst auch hier wieder auf unmoralisches Verhalten seines verehrten Marco, für den er alles tun würde…

Beim Lesen dieser Geschichte beschlich mich selber auch eine beklemmende Ahnung! Nämlich, dass das ganze von einem weiblichen Gehirn ausgedacht worden ist. Der junge Jan scheint nur unter weiblichen Fittichen zu leben und wird nur durch Zufall auf die ganze Welt draussen aufmerksam. Normalerweise bringen Jungs in dem Alter schon ein ganzes Beziehungsnetz daher, egal ob Heteros oder Schwule. Und sie haben bereits sexuelle Erfahrungen, die Jan völlig zu fehlen scheinen! Es geht vor allem um Liebe, Schmusen und Gefühle in diesen Geschichten. Es scheint mir eine Welt der Mädchen und Frauen zu sein, in der auch ein Schwuler wie ein Mädchen ganz jungfräulich sich in den „Richtigen fürs Leben“ verknallt und dafür noch von einem bösen Schicksal geplagt wird. Ein richtiges Märchen also, das nur durch Zufall hinter den Türen eines alten Kastens auf dem Dachboden gefunden wird. Peter Thommen_61

Marty Tolstoy: Gelegenheit macht Liebe/Diebe, Band 1, Shaker Media 2010, 240 S. und Band 2, 274 S. Eigenverlag o.J. beide ca. 14 €uro

 

P.S. Ich habe die Bücher einer erfahrenen Frau (Fussballfan, Fasnachtsclique)  zum Lesen gegeben und auch sie konnte sich des Eindrucks einer weiblichen Autorinnenschaft nicht erwehren. Auch wenn der Autor in Wirklichkeit ein Mann ist, ändert das nichts an meinem Eindruck! Weitere Details offenbart die hp des Autors!

Ich habe schon vor einiger Zeit das Buch von Manuel Sandrino: Selbstverständlich schwul (eine fantasierte Geschichte um eine schwule Schule in den USA) schon in der Mitte aus der Hand legen müssen, weil sich die Geschichten für mich um einen Mann drehten, der eigentlich eine Frau spielt unter Männern, wenn auch schwulen. Das mag interessant für die Genderforschung, aber nicht für die Biografie eines jungen Schwulen sein. Wem es gefällt, sei diese Art von Unterhaltung durchaus empfohlen.

Selbstverständlich schwul

Timmy ist ein verklemmter, schwuler 20-jährigerer. Entschlossen seine Hemmungen in den Griff zu kriegen, besucht der Schweizer für sechs Wochen eine Schule in San Francisco, die mit Selbstverständlich schwul! wirbt.

An der Schule und im San Francisco Mitte der 80er- Jahre entdeckt Timmy nicht nur das Geheimnis der Erotik, sondern vor allem einen ganz neuen Sinn im Leben. Nicht nur in der Theaterklasse, sondern auch in Mythologie schlüpft er in immer neue Rollen.

Immer neue Herausforderungen treiben ihn vorwärts: erst seine Hemmungen, dann seine tiefsten Ängste zu überwinden. Dabei gewinnt er nicht nur Freunde. Oft erstarrt Timmy in Angst bei dem, was alles auf ihn zukommt, stolpert aber trotzdem stetig vorwärts in immer verrücktere Gelegenheiten zu wachsen, sich zu blamieren und Antworten auf seine drei alles motivierenden Fragen zu finden: Was bin ich? Wer bin ich? Warum bin ich so, wie ich bin?

Der Süden Kaliforniens bietet so viel Neues und Aufregendes: als Statist in einem Film mitzumachen, eine spontane Show am Muscle Beach in Venice und als sich Timmy für eine Massage als Model zur Verfügung stellt, wird er unfreiwillig Lehrobjekt bei einem Tantra-Seminar. Aber vor allem Mythologie und Museumsbesuche eröffnen Timmy eine neue Welt, die immer mehr sein Denken und Fühlen beeinflusst. Erotik öffnet ihm neue Türen. (aus den Verlagsinfos)

„Das Buch ist voller Erotik und Fantasie. Jedes einzelne seiner Erlebnisse lehrt Timmy etwas Wichtiges. Timmy ist jemand, der nicht einfach glaubt, sondern durch hinterfragen, ausprobieren, beobachten und zuhören lernt. Er stürzt sich in die Abenteuer, auch wenn eer oft vor Angst fast erstarrt.“

„Was ist Erotik anderes als, als seine Fantasie kreativ zu nutzen?“

„Erstaunlicherweise erhalte ich speziell von Frauen, Müttern und Schwestern Feedbacks, wie das Buch ihnen neue Türen zur oft verschlossenen männlichen Psyche eröffnet.“

„Wie gehen schwule Männer miteinander um? Vieles ist bewusst zwischen den Zeilen belassen, oder nicht beschrieben.“

„Ein spannender Roman über einen kleinen Teil einer von vielen Männerwelten.“ (Worte des Autors)

Ich habe das Buch bis zur Hälfte gelesen. Dann ist mir klar geworden, dass dieser Timmy kein Schwuler ist. Ich war immer wieder irritiert über gewisse Ereignisverläufe, Gedanken und Rollenspiele. Halb zog es ihn, halb fiel er hin…

Das Buch ist eine Fantasie und Timmy spielt eigentlich die Frauenrolle in einer homosexuellen Welt, es könnte geradesogut von der besten Freundin eines Schwulen geschrieben worden sein. Wems gefällt, dem sei’s empfohlen!  Peter Thommen_60, Schwulenaktivist (publ. auf gaybasel.ch)

Manuel Sandrino: Selbstverständlich schwul, (PDF) Himmelstürmer 2008, 370 S. CHF ca. 26.-

Ein weiteres Jugendbuch mit ziemlicher „Mädchenperspektive“ ist

Edvard van de Vendels: Die Tage der Bluegrass-Liebe, Carlsen 2009  (Bd.1) 

Die langen Nächte der Stille, Carlsen 2009, 390 S. ca CHF 21.-  (Bd.2)

Veröffentlicht unter schwule Identität | Schreib einen Kommentar

der junge auf der heissen sohle

Hitze ist fast immer Ausdruck von Körperlichkeit und Sexualität. Dieser Roman wird geprägt von Sonnenhitze, Wut und Branntwein… obwohl die Sexualität eigentlich „abwesend“ ist. (In der Zeit der Prohibition in den USA – 1919-33)

Die Geschichte ist so heterosexuell wie irgend möglich. Aber die Hitze schlägt auf den jungen Mann ein wie Blitze, oder hält ihn in Leidenschaften gefangen. Daneben wirken seine sexuellen Kontakte mit Mädchen oder jungen Frauen schal und warm. Das männliche Feuer brennt IN ihm und das macht die Geschichte wiederum zu einer Auseinander-Setzung, die nach Einheit mit dem eigenen Geschlecht sucht. Wozu denn in die (weibliche) Ferne schweifen, wo doch das Gut(e) so nahe liegt?

„Dog Star“ von David Windham ist kein schwuler Roman. Und doch geht es um Männer und ihre Rolle, gegenüber der Mutter, den Geschwistern, „den Frauen“ und den anderen Männern in einer Kleinstadt der USA. Da wo alles seine Ordnung und seine Gewohnheiten hat. Blackie ist einer Besserungsanstalt entflohen, in welcher er einen nahen Freund durch dessen Selbstmord verlor. Er kehrt zurück in sein Nest, das nicht mehr sein Zuhause sein kann. Weder im Sex mit einem Mädchen, noch in Arbeit oder Nichtstun, kann er einen Sinn des Lebens finden. In dieser Enge verformt sich Männlichkeit zu Heldentum oder Tod. Sehr schön sind diese Elemente in ihrer Wirkung beschrieben, in einer Sprache, die einem das alles sehen, riechen und schmecken lässt!

„Seit er sich erinnern konnte, hatte er in Garagen und unter Häusern mit kleinen Mädchen gespielt. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass Liebe damit zusammenhing. Er war erfreut und überrascht.

„Nachts im Park war er mit ihnen – sein Glück überall versuchend – so weit gegangen, wie er (jetzt) mit Mabel gegangen war. Es war ein Abenteuer, aber es war das Gegenteil von dem, was er unter Liebe verstand. Liebe war etwas Grosses und Starkes, ohne jede Verbindung zu Handlungen, die vertraut waren und sichtbar, und einen Namen hatten. Liebe war ein Entkommen aus dem Alltag, nicht ein Teil davon.“

Er betrachtete Mabel, als hätte er sie nie zuvor gesehen, und liess seine Hände an ihrem zarten, festen Körper hinab gleiten, bevor er antwortete. Er glaubte es nicht wirklich, und doch machte es ihn unglaublich glücklich, Liebe auf das zu reduzieren, was da vor ihm stand, um angeschaut und von seinen Händen angefasst zu werden.

Ich liebe dich auch“, sagte er.“

Natürlich hatte er sowas nie zu einem Jungen gesagt. So treibt er sich also in der Stadt, unter den Jungs, den Ganoven und der Familie herum, die Stärke von Whitey suchend, die er durch dessen Selbstmord verloren und die er offenbar in einem Vater nie hatte. Sich auf Spiele einlassend, die ihm Ansehen, Respekt oder gar Geld bringen sollen.

Blackie durchlebt das, was Schwule nie erleben wollen und zieht trotzdem am Ende die Konsequenz da, wo Schwule erst mühsam anfangen müssen, mit „heterolike“ und „straight-acting“. ..

Ein Buch also, aus schon historischen Zeiten, aber mit der Macht des Heterrors, der Jungs bis heute bis in den Tod treiben kann.  

Peter Thommen (61)

Donald Windham: Dog Star *, Lilienfeld Verlag 2010, 220 S.  CHF ca. 26.–

* vom Hundsstern am Himmel hergeleitet

Das Buch ist auch im gay-mega-store Basel zu haben.

Eine Besprechung von Zwei Menschen folgt!

Veröffentlicht unter Männlichkeit | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Einen Regenbogen im Brillengestell

Das hat nicht jeder. Für Patrick Bowien (30) aber ist das auf dem Titelbild das richtige Symbol für seine Identität als Schwuler. Die an die 60er Jahre erinnernde Frisur lässt zuerst auf einen Mädchenkopf tippen. Aber so ist das mit der Identitätsfindung in der männlichen Homosexualität: Keiner will „so sein“ wie „der Andere“, aber trotzdem müssen wir zueinander finden. Für ihn ist das „gaynau richtig“.

Da hat sich einer daran gemacht, die Geschichte, die Umstände, und selbst HIV aufzuarbeiten und zu sich selbst zu finden. Der Weg ist doch das Ziel! Daneben schrieb mir kürzlich ein 22jähriger Bisexueller, er wisse doch schon alles und brauche keine Bücher zu lesen. Kein Weg führt auch zu keinem Ziel…

Ich war etwas überrascht über Bowiens vertiefte Arbeit, die er in einem Buch veröffentlichte. Etwas überrascht war ich auch, dass der 22jährige Junge befand, er wisse doch schon alles. Zwischen den beiden liegen nur rund 10 Jahre.

„Dieses Buch zu schreiben war eine persönliche Herausforderung. Neben Stress und Verzweiflung brachte es mir jedoch auch Lernen über die Identitätsfindung in der Homosexualität und über das professionelle zielgerichtete Schreiben eines Buches.“ (Vorwort)

Doch dies scheuen die meisten Jungs. Sie möchten ihre sexuelle Orientierung möglichst lange in der Schwebe behalten und sie schliesslich einem Schicksal anheim stellen, das sie dann nicht zu verantworten haben. Nach dem Motto: Etwas bi schadet nie…

Bowiens Arbeit ist eine ausführliche Zusammenstellung der Fakten, wie sie viele schwule Jungs und Männer immer wieder für „Selbstvertiefungsarbeiten“, Semesterarbeiten, oder Schulvorträge zum Zweck ihres coming outs in Ausbildungsinstitutionen erarbeiten. Ein Crashkurs durch Geschichte, Kultur und Politik und wie diese die Homosexualität einordnen. Auf die einschneidende persönliche und politische Rolle von HIV-AIDS geht er in einem ausführlichen Kapitel ein.

Darauf aufbauend beginnt ungefähr in der Mitte des Buches der Text über die Selbstfindung. „Die vorangegangenen Kapitel bildeten die Basis, auf der der homosexuelle Mensch sozialisiert wird. Diese Basis bestimmt das Fremd- und Selbstbild und beeinflusst den Prozess der Identitätsfindung wesentlich.“ (S. 61)

Er beruft sich auf wichtige Autoren der letzten Jahre und Jahrzehnte und zitiert ausführlich aus Büchern von Rauchfleisch, Hofsäss und vor allem Wiesendanger. Sein Studium der Sozialpädagogik gibt ihm auch die Knackpunkte fürs frühe jugendliche coming out vor. Diese werden weitgehend von den pädagogischen Institutionen übersehen. Bowien macht klar, dass viele Jugendliche bis ins Erwachsenenalter hinein der besonderen Beratung bedürfen, um nicht in pubertärer Opposition und an den gnadenlosen Regeln von Heterror und kommerzieller Szene zu scheitern. Er gibt auch handfeste Tipps für Beratungen und heterosexuelle Therapeuten. Aus der Sicht emanzipatorischer Sozialpädagogik ist es besonders wichtig, „nicht auf die Integration von homosexuellen Menschen in die heterosexuelle Gesellschaft hinzuarbeiten, sondern die Autonomie der Homosexuellen zu stärken. Auf diese Weise wäre ein homosexuelles Leben in psychischer Gesundheit in einer Gesellschaft wie sie heute besteht, leichter zu realisieren.“ (S. 87)

Drei personenzentrierte Interviews (nach Rogers) schliessen das Buch ab. Mit homosexuellen Männern der Jahrgänge 1928, 1958 und 1987, die er ausführlich kommentiert.

Bowiens Buch hat mir einmal mehr vor Augen geführt, dass es noch immer einer intellektuellen Anstrengung bedarf, um – jenseits der Nachahmung heterosexueller Normen – ein persönlich eigenständiges und selbstverantwortetes Leben in und mit der Homosexualität zu führen. Diese Anstrengung ist lebenslang gefordert! Die erleichterte „Einbürgerung“ mittels gesetzlicher Lebenspartnerschaften kann dies niemals ersetzen!

Peter Thommen, Schwulenaktivist (61)

Patrick Bowien: Gaynau richtig! Identitätsfindung in der männlichen Homosexualität, Tectum 2011, 120 S., CHF ca. 27.- (€ 19.90)

(Das Buch ist in Basel auch bei gay-mega-store erhältlich)

Siehe auch die Bücher von Wiesendanger: Vertieftes coming out, sowie Das Kind im schwulen Mann

Veröffentlicht unter coming out, schwule Identität | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Loetscher: war meine zeit meine zeit

Hugo Loetscher (1929-2009) ist ein schweizer Schriftsteller der Vorkriegsgenerationen. Er hätte mein Vater sein können. Er begann in den sechziger Jahren zu publizieren und bereiste später die halbe Welt, um zu entdecken, dass es jenseits des zürcher Sihlflusses noch andere Ufer gab. Vom „anderen Ufer“ berichtete er in seinem Roman „Der Immune“ (1975). Ich erfuhr sehr viel später davon, denn Loetscher war gar nicht als „homosexueller“ Schriftsteller bekannt.

„getabstract.com“ bietet eine Zusammenfassung dieses Romans, worin Loetscher erstmals von der Weltläufigkeit seines Denkens und Lebens erzählt. „In seinem quasi autobiografischen Hauptwerk blickt der Zürcher Autor und Kosmopolit Hugo Loetscher auf sein Leben als Journalist zurück. Der Immune, die Hauptfigur des Romans, leidet an seiner Überempfindlichkeit und versucht sich abzuhärten, indem er sich allen möglichen Situationen, auch den unangenehmsten, schonungslos aussetzt.“

Das kommt mir irgendwie bekannt vor! Viele Homosexuelle versuchen, sich abzuhärten, mittels zusätzlicher Leistungen, die sie erbringen, grösserer Krativität – aber auch grösserer Destruktivität und Dekonstruktivität ihrer eigenen Persönlichkeit. Vor allem wenn ich an die letzten Jungautoren denke, deren Leben ohne Drogen und HIV nicht zu beschreiben wäre.

„Der Waschküchenschlüssel“ (1973) blickt eindringlich auf Schweizerische Eigenheiten und wie ein Junggeselle in dieser Waschküchenordnung ein heilloses Durcheinander erzielt.

Loetschers letztes Buch erschien einige Tage nach seinem Tod. Anlass genug für mich, in seinen Lebenserinnerungen zu lesen. Ich erwartete nichts „schwules“ von ihm. Lediglich einige Skurrilitäten eines Junggesellenlebens eben. Eines bürgerlich-anerkannten Philosophen, Journalisten, Kulturkritiker und Schriftstellers. Ich las das Buch mit Unterbrüchen über ein halbes Jahr. Das Leben ist kein Trip, kein Orgasmus und auch kein Paradies. Es hat seine Langweiligkeiten und Längen, wie dieses Buch auch. Aber es überraschte mit einigen Rosinen und Erdbeeren, für die es sich für mich gelohnt hat, Zeit mit ihm zu verbringen.

Damit in der Hektik des „heterosexuellen Literaturbetriebes“ die rosa Gedanken Loetschers aus diesem Buch nicht verloren gehen mögen, zitiere ich sie für Euch!

 

„Da dringt das Sonnenlicht in den Regentropfen ein und bricht; an der Innenwand des Tropfens wird ein Teil des Lichtes reflektiert; unter nochmaliger Brechung tritt das Licht aus dem Tropfen, und das weisse Licht wird in seine Farbkomponenten zerlegt.

Ob auch ein Mensch erst Farbe bekennt, wenn er mehrfach gebrochen wird?

Doch dann sah ich die Regenbogenfarben nicht an einem Himmel, an dem sie erlöschen, sondern auf einer Flagge. Die weht von Balkonen, Strassenlaternen, Brückengeländern, Haltestellen, wurde als Kopftuch und Umgang getragen – es war die Fahne der Homosexuellen, welche mit ihr ein öffentliches Bekenntnis ablegten, stolz der Tag, stolz die Woche, stolz die Parade. Die Farbpalette stand dafür, dass unterschiedliche Menschen sich zusammenfinden: die Roten, die Orangen, die Gelben, die Blauen, die Grünen und auch diejenigen, die lila sind.“ (S. 33-34)

(Über die Homoszene in Zürich nach dem Krieg) „Ein Programm anderer Art bot das einzige schwule Nachtlokal. Da schlenderte nicht nur ich an der Türe vorbei, noch eine Kehrtwendung, sich vergewissernd, wer herumstand, bevor man eintrat. Es wurde geflüstert: die, die solche Lokale aufsuchen, werden von der Polizei registriert. Drinnen vernahm man Genaueres. Verschärfte Kontrolle der Pissoirs. In Paris soll verboten werden, dass Männer miteinander tanzen. Die Amerikaner glauben nicht an den Kinsey-Report, so viel Prozent können es nicht sein, die derartige Erfahrungen eingestehen. An der Wand die Reproduktion von Ganymed, entführt vom Adler, und im Himmel erwartungsvoll Zeus, für „Menschen unserer Art“, Gruppenbilder von Heiligabend im Klublokal, „damit im Schein der Kerzen Weihnachten nicht ein Fest der Einsamen ist“. Einer überredet den Typen neben ihm, den Arm auf seiner Schulter: „Auch Shakespeare war so und erst Michalangelo“. Worauf einer aus einer dunklen Ecke kommentiert: „Schwul ist nicht abendfüllend. Vielleicht reicht’s für eine Nacht. Es ist nicht alles schwul, was glänzt.“ Ein rauchgeschwängertes Gedränge, so dass sich nicht nur von Barstuhl zu Barstuhl Schenkel an Schenkel presst.“ (S. 65)

„Was aber, wenn das Ufer, von dem ich komme, nicht das jenseitige Ufer der Sihl ist, wenn es eine andere Art Ufer ist, eines, das jenseits der gängigen Moralität liegt – was, wenn ich nicht liebe, wie diese die Majorität tut.

Ich war zu unzähligen Ufern unterwegs, die anders sind. Dabei hat mich gelegentlich der Reiseführer begleitet, der Auskunft gab: In welchem Land steht auf Homosexualität die Todesstrafe, und in welchem kann man „wegen Zuwiderhandlung gegen den Anstand“ zu Zwangsarbeit verurteilt werden. Wo wurde die Gesetzgebung liberalisiert und wo ist Diskriminierung strafbar – ja, und wie hoch ist das Schutzalter, nicht unwichtig, ob dabei Geld mit im Spiel ist.

Einschlägige Tipps für diesen Ort oder jene Stadt, nicht nur für Hotels oder guesthouses. Adressen von Bars und Clubs, in denen sich eher Ältere und Bärtige treffen, wo Studenten und Pornostars zusammenkommen, oder wo Stricher ihre Dienste offerieren. Aufgelistet, was empfohlen wird an Diskothek und Darkroom, was den Lederfetischisten oder den Liebhaber von gogo boys erwartet. Ob Strip oder Tabledance. Was an Dresscode respektiert werden muss: Leder, blue jeans oder military look. Hat das Kino eine Grossleinwand, oder nur Kabinen? Welche Sauna wartet mit „bösen Buben“ auf, die Sado bieten, oder massieren einfach Männer Männer, und werden mit der Eintrittskarte auch Kondome abgegeben? Hinweise auf Spezialevents wie Transvestiten-Show oder Unterwäsche-Partys. Welcher escort service ist europa- und weltweit zu empfehlen, und weshalb gilt diese Bahnhofs- oder jene Parkbekanntschaft nach Eindunkeln als gefährlich? Und natürlich die Nummer für das Überfalltelefon oder die Aidshilfe.

Wo aber war ich nicht überall dabei, ohne anwesend zu sein. Zum Beispiel als einer, weil er einem Mann beigewohnt hatte, rücklings von einem Felsen gestürzt wurde, worauf einer im Namen Jahwes den ersten Stein warf und ein zweiter den zweiten, bis die ganze Gemeinde steinigte.

Stand ich nicht oben an einer andern Grube. Beide, in flagranti ertappt, waren eingegraben bis zur Hüfte. Am lautesten johlte der neben mir, als er, Allah ist gross, mit seinem Wurf den Kopf des einen traf; er hielt den nächsten Stein zur Kontrolle hin, der durfte nicht grösser als seine Hand sein. Das war vorgeschrieben, um den Tod hinauszuzögern.

Und was für ein Auflauf an Schaulustigen, als ein Sodomit vom Gerichtsdiener aufs Rad geflochten und auf den brennenden Holzstoss geschoben wurde. Der Schrei des Verurteilten ging unter in der Litanei, die die Gerechtigkeit der Heiligen pries: ein christliches ora pro nobis.

Hätte ich nicht auch angestanden, um den amerikanischen Ex-Kombattanten im Gefängnis zu besuchen, auch wenn nur ein kurzes Gespräch durch eine Trennscheibe hindurch toleriert worden wäre? Hinter dem Glas der Sergeant, der vor seinen Richtern bekannte: „Ich habe im Vietnamkrieg einen Mann getötet und wurde dafür ausgezeichnet, ich habe in den USA einen Mann geküsst, dafür kam ich ins Gefängnis.“

Haben Eier und Tomaten nicht auch mich getroffen, obwohl ich nicht mitmarschierte bei den Pride-Paraden – ob in Moskau oder Bukarest, oder sonst wo. Auch mir haben sie ein Transparent entrissen. Auch auf mich, der ich vor dem Bildschirm sass, haben bekennende Patrioten und militante Christen eingeschlagen, für einmal war ich froh um die Wasserspeier der Polizei.

Zu einem Drink aber habe ich live eingeladen (frag auch den Jungen in der Ecke, was er mag, den mit den zerschlissenen Jeans und der Schirmmütze im Gesicht). Im Stonewall an der Christopher Street im New Yorker Greenwich Village. Hier, in diesem Szenetreff, trank ich auf die gays, die eines Nachts die Polizei nicht mehr hinnahmen. Die Polizisten verhafteten schon wegen eines Kusses oder wegen Händchenhaltens und nahmen sic mit höhnender Vorliebe Transvestiten vor. Die Gays schlugen zurück, nicht mehr nur Schwarze und Hispanics. Ein paar tausend gegen ein paar hundert Polizisten. Flaschen und Steine gegen Gummigeschosse und Knüppel. Nicht bloss Handgemenge, sondern Tumult und Aufruhr. Drei Tage Rebellion – gay power.

Das war etwas anderes als die Razzien im Nachkriegs-Zürich mit seinem Schwulenregister. Wegen der Homosexuellen würden sich Geschlechtskrankheiten ausbreiten. Daher Verhaftungen und Zwangsuntersuchungen. Ein lokales Kapitel der Brunnenvergiftung, das sich wiederholte, als Aids als Schwulenepidemie diffamiert wurde. Bis die Immunschwäche international auf die Hetero-Agenda kam und afrikanische Heime sich mit Aids-Waisen füllten.“ (S. 188-190, Auszug aus einem vieles übergreifenden Homo-Thema-Kapitel, bis S. 208)

„Das Café Pierre Loti gibt es noch. Nur dass jetzt eine Schwebebahn zur Eyüp-Sultan-Moschee hinunterführt. Damals stieg ich zu Fuss den Hügel hina, strekcenweise auf einem Trampelpfad, durch den Friedhof, der sich den Hang entlangzieht. Unter alten Zypressen blumenlose Gräber, manche mit hohem Gras überwachsen. Mit Blüten und Muscheln verziert die Grabplatten der Frauen, die Stelen der Männer mit einem Turbanmotiv gekrönt, der schiefe Turban ein Zeichen, dass der Tote geköpft worden war. Ich versuchte, einem Alten auszuweichen, der sich mir in den Weg stellte. Ein struppiges Gesicht, der Mund fast zahnlos, als Gürtel eine Schnur, die Hose ausgefranst, barfuss, das eine Bein nachschleppend. Schliesslich folge ich ihm in seine Behausung, eine Unterschlupfhöhle mit einer Grabplatte als Dach. Die Matratze zerschlissen, ein paar Kerzenstummel, auf dem Boden ein angeschlagenes Emailbecken. Er hinkte in eine Ecke und holte hinter abgegessenen Melonenschalen etwas hervor, streckte es mir hin: „Ich war damals ein Junge. Von Pierre. Von Loti.“ Ein Roman des französischen Schriftstellers, der in jenem Café viel geschrieben hat und sich gern mit Jungen umgab. Das Buch in rotes Leder gebunden, mit Goldschnitt. Der Mann, der mir zum Abschied die offene Hand hinhielt, bettelte nicht, er verkaufte eine Erinnerung.“ (S. 172-173)

 

Ist es nicht faszinierend, wie ein Schriftsteller seine Erinnerungen weitergibt? Wie er wiederum sich an die Erinnerungen Anderer erinnert? Wie ein ganz normaler bürgerlicher Schriftsteller sich an Geschichte und Subkultur anheftet, sich mit ihr identifiziert und auch ein Teil von ihr ist, wiewohl er zu den Tatzeiten abwesend war? Und über welche Symbole er sich mit Anderen verbunden fühlt.  Peter Thommen (61)

Hugo Loetscher. War meine zeit meine zeit, 410 S. Diogenes 2009, € 21.90, ca. CHF 36.-

Loetscher, War meine Zeit meine Zeit, diog

Roman Bucheli: Ein letzte, lange Liebeserklärung, NZZ 2009

 

Pierre Loti (1850-1923), französischer Schriftsteller, erwähnt von Hugo Loetscher

Veröffentlicht unter Allgemein | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , | Ein Kommentar

Innenansichten eines gay Teenagers

Schon am Anfang dieses Buches, das in London und Umgebung handelt, musste ich mehrmals laut lachen und öfters schmunzeln über die Schreibe von Will Davis. Und mit seiner brutal-ehrlichen und schräg-sarkastischen Erzählweise zog der heute 30jährige Autor mich in seinen Bann und in sein Leben hinein. Mich beeindruckte einfach der Titel: „Meine Sicht der Dinge“, denn da ist einer nicht zu feige, Stellung zu beziehen!

Davis wurde 1980 geboren und wuchs in den Herrschaftsjahren von Margareth Thatcher auf, deren Regierung bekanntlich jegliche staatliche Hilfe für Homosexuelle verboten hatte. (Clause 28)

Sein Leben spielte sich im Haus seiner spröden Familie, sowie in der Schule ab. Seine beste Freundin ist eine Mitschülerin, seine Schwester ist gläubig und auf der Schule hat es Nazis, die mit Messern herumfuchteln

„Es ist aber nicht so, dass in meiner Story sehr viele aufregende Sachen passieren werden; ich will ja nicht lügen. Und das war auch schon der Hinweis. Ich wollte eigentlich noch irgendwas faseln, dass ich mich nicht als total toller Erzähler aufspielen will, der die Leute für sich gewinnen möchte, aber das wäre bloss Zeitverschwendung. Und wenn ihr deshalb jetzt nicht weiterlesen wollt, dann ist mir das scheissegal.“ (S. 7)

Es gibt eine Menge Streitereien in dieser Familie und an der Schule, die er gerne mit Aussprüchen wie: „Bring es doch bitte hinter uns!“ kommentiert. Was nicht heisst, dass er nicht auch mal den jungen Baum über dem Katzengrab seiner Schwester zertrampeln kann, oder dem Erdkundelehrer eine haut, weil er ihn aus der Schwulendisco hinauskomplimentiert hat.

Jarold, oder besser Jaz – wie er genannt wird – ist aus seinem Leben heraus so frech, wie das Leben oder die Leute auch zu ihm sind.

„Ich weiss nicht, was mit mir los ist, aber ich verspüre oft den Drang zu lächeln, wenn jemand versucht, mir gegenüber ernst zu sein. Dieser Jemand ist in der Regel Mum, also ist das nicht so schlimm, aber ein-, zweimal ist es mir bei Lehrern passiert, und das hat mir eine Menge Aerger eingebracht. Ich fühle, wie es jetzt in mein Gesicht kriecht, wie ein Wurm.“ (S. 15)

Gerade ist sie in sein Zimmer geplatzt, für das er keinen Schlüssel hat, aber manchmal einen Schaft vor die Türe schiebt.

„Ich weiss, es ist hart für dich, Jaz, sagt sie. Ich denke an meinen harten Schwanz und daran, wie recht sie hat. Warum kann sie nicht einfach gehen? Aber stattdessen hört sie nicht auf, zu beteuern, wie sehr sie mich liebt, aber ich wäre so verschlossen, und sie wüsste, wie schwierig das alles sei, aber manchmal habe sie keine Ahnung, was in mich gefahren wäre und ich solle mich doch ein bisschen mehr öffnen. Die Frau macht eine Anspielung nach der anderen. Ich versuche krampfhaft, zu nicken und mein Kichern in ein Räuspern zu verwandeln, aber auf einmal sagt sie: Ich will meinen kleinen Jungen Jarold zurückhaben, und das in einer so sentimentalen Stimme, dass ich mich nicht mehr beherrschen kann. Ich: Komm drüber hinweg, und dann sagt sie mir, ich wäre herzlos, aber wenigstens kommt die Botschaft bei ihr an und sie verschwindet. Natürlich ist mein Ständer mittlerweile auch verschwunden.“ (S. 16)

Nun schickt er seiner besten Freundin eine SMS: OGOTT ELTRN HABEN GRAD RAUSGEF, DASS I SCHWUL BIN VOLL SCH, MORGN MHR!

Am anderen Morgen nimmt sein verhängnisvolles schwules Leben seinen Lauf, weil diese im Bus nicht ihren Mund halten kann und vor Aufregung plappert…  Schnell erreicht dieses Wort die Schule und macht die Runde. Das gibt Schwierigkeiten mit Arschgesicht und Bulldogge.

„Fabian lässt seinen Blick zwischen uns schweifen und kichert wie eine alte Hexe. Er sagt (zu ihr): Pass nur auf Schlitzi, sonst steche ich dir und deinem kleinen Schwuchtelfreund die Augen aus.

An dieser Stelle fühle ich mich dazu aufgefordert, auch einen Gesprächsbeitrag zu leisten: Geh doch bitte eine Kettensäge ficken, ja?

Fabian schenkt uns diesen comicartigen Bösen Blick, den er wahrscheinlich daheim vorm Spiegel übt, und zeigt dann sein Zungenpiercing.“ (S. 18)

Davis kann sehr genau beschreiben und streut seine neunmalklugen oder altklugen Gedanken in seine Texte hinein, so dass wir uns gleich in ihm drin fühlen. Wir erfahren all das, was Teenager nie gefragt werden, oder auch nicht freiwillig erzählen würden. Er schenkt uns einen Text, der frei ist von Sexualzensur, aber dennoch moralisch gefärbt. Einer Moral, die sich aus den Erfahrungen ergibt, die er noch und noch macht.

Manchmal spult er sein Leben einfach etwas vor, weil er unbedingt etwas erklären muss. Manchmal blendet er zurück und erinnert sich an Vergessenes. Er will aus seinen Kinderhosen hinaus und Mum und Dad wollen ihr Kind „so behalten“. Das klassische Drama einer bürgerlichen Familie halt, die das wohl nie begreifen werden.

Jaz und Al – so heisst seine beste Freundin – besuchen also die gay disco in Brighton, und Jarold begegnet da auch „seinem Typen“, bei dem er zu landen versucht und erst beim zweiten Anlauf an die Mobile-Nummer und Adresse herankommt. Al schiebt ihm später auch eine „E“ in den Mund und Jaz fliegt ganz schön auf die Droge, während deren Wirkung er sich später von dessen älterem Wohnpartner zum erstenmal und – blutig – ficken lässt.

Witzig sind die Szenen beim Psychiater, zu dem er seine Eltern begleiten soll. Jedenfalls schafft seine Mutter einen Turm „Selbsthilfebücher“ an und am Schluss hat dieser Fachmann noch ein Verhältnis mit Jaz’ Erdkundelehrer.

Es wird dem Leser also selten langweilig, gibt viel zu lachen und über Jarolds Gedanken auch nach-zu-denken. Er spielt nirgendwo die „armes-Opfer“-Rolle, auch wenn er immer mal wieder „sehr tief fällt – tiefer geht’s nimmer“ – er nimmt die Herausforderungen an.

Ich denke, der englische Text hat offenbar eine sehr gute Übersetzung bekommen, die sich nicht nur auf ein „hey krass, Alter!“ beschränkt.

Ich hoffe Ihr habt auch so viel Vergnügen an einem Jugendbuch, das übrigens auch von „heteromässig“ daherkommenden Jungs gelesen werden kann (Zunge-raus-streck!)  Peter Thommen, Buchhändler

Nun meine Kollegen aus Wien:

„Will Davis lässt Jaz ein ziemlich konventionelles Leben führen und seine Ausbruchsversuche und Ansprüche an Eigenständigkeit zielen darauf, in Ruhe gelassen zu werden und den Massstäben der eigenen Normalität genügen zu können… Jaz ist etwas Besonderes, gerade weil er sich solchen vergleichenden und damit von aussen an ihn herangetragenen Massstäben gar nicht stellt. Seine Besonderheit liegt gerade in seiner Normalität, ein vermeintliches Paradoxon, dass der Roman erzählerisch wie sprachlich überzeugend vorführt – fesselnd, weil Jaz‘ einerseits aus der Ich-Perspektive erzählt – aber es eben nicht „seine Geschichte“ ist, sondern „seine Sicht der Dinge“. (Aus dem Text von Veit G. Schmidt, Löwenherz, Wien)

Will Davis: Meine Sicht der Dinge, Roman, Bloomsbury 2007, Bruno Gmünder, 2010 , 235 S.  ca. CHF 24.-

In Basel erhältlich bei ARCADOS und gay-mega-store, aber wohl nicht in jedem Buchladen – grins!

Hier einige Links über den Autor:  seine Homepage

Wie das Buch den Weg in die Oeffentlichkeit fand

Reviews: greatgayreads, media-culture

Davis’ zweites Buch Dream Machine

Wie er mir per email geantwortet hat, schreibt er bereits am dritten Buch!

Veröffentlicht unter coming out | Ein Kommentar