Nordafrikanisches Liebesleben im Wandel

Shereen el Feki hat ein aktuelles Buch mit sehr viel historischen, ethnologischen und sexuellen Informationen geschrieben, das ich mit Spannung gelesen habe.

Die Sexualkultur unter Moslems ist darin sehr anschaulich beschrieben, sowie die Doppelmoral, die sich aus Religion und Wirklichkeit ergibt. Neben der Situation von Frauen beschreibt sie auch die desolate Wirklichkeit von Männern. Unter der heute gültigen Kultur leiden beide Geschlechter, weil sie eine Ideologie für Gläubige (mönchisch) und keine mit Bezug auf Alltagserfahrungen mehr ist. Aberglaube, Unwissen und „vorauseilender Gehorsam“ sind wichtig! (Also Handlungen, die etwas Positives durch „Gehorsam“ in Aussicht stellen. Ein typisches Familienritual, wie ich meine!)

Obwohl der Islam und sein Prophet ihren Gläubigen sexuelle Freuden gönnt, lassen die sich aber nicht so einfach umsetzen und geniessen! Daher wogt ein stetiger Streit mit sogenannten religiösen Autoritäten, die angeblich wissen wollen, was „halal“ (gottgefällig) und was „haram“ (sündhaft) sei…

Mich interessieren solche Kulturschilderungen, weil sie das Grab unserer eigenen Vergangenheit öffnen und Erinnerungs- und Rekonstruktionshilfen für unsere Kultur sind, von denen die meisten nichts mehr wissen…

Bis heute sind die Bedürfnisse von Frauen und Männern sehr verschieden und müssen erst „koordiniert“ und eingeübt werden. Von „natürlicher Ergänzung“ kann keine Rede sein – abgesehen von der Penetration zur Fortpflanzung. Heterosexualität ist ein Konstrukt. Im Zusammenleben wie im Sexualleben. Rituale haben das menschliche Gespräch historisch zunehmend ersetzt.

Als Schwuler erkenne ich in den Schilderungen Fekis auch die verschütteten homosexuellen/homosozialen Elemente aller Männer wieder, an denen sie von Müttern, Gesellschaft, Freundinnen und Ehefrauen vorbeigemogelt werden.

Mir fällt bei den Gebräuchen der Moslems auch auf, dass es darum geht, den Sexualorganen mit Beschneidungen Gewalt anzutun, um sie früh zu zähmen. Aber um als erwachsen gelten und erwachsenen Sex haben zu können, braucht es weitere. (Ähnlich wie mit den religiösen Riten der Taufe/Konfirmation/Ehe) Es geht auch darum, dass vorehelicher Sex unter Kindern oder Jugendlichen „verhindert“ werden soll. Aber wer soll damit vor wem geschützt werden? Die Frauen vor Empfängnis und/oder die Männer vor Homosexualität?

Klar ist mir geworden, dass die Religionen ihre Macht auf Sexualeinschränkungen aufbauen. Dem Kind wird versprochen, es erhalte für den Gehorsam dann später eine Erfüllung im Sex und in der Liebe. Und dem Erwachsenen wird wiederum versprochen, er erhalte gegen seinen Glauben nach dem misslichen Leben, ein ewiges Paradies im Himmel…

In der administrativen und religiösen „Vergewaltigung“ in der Geschichte der Sexualität erkenne ich die heutige Sehnsucht von westlichen Schwulen und Bisexuellen, tatsächlich „entjungfert“ zu werden und von sexuellen Übergriffen zu träumen, letztlich um die Verantwortung dafür nicht übernehmen zu müssen. Nach dem Schmerz wird verlangt, aber nicht nach der Fähigkeit, (da)mit Sex(uell) umzugehen!

Feki Zit

in englisch und deutsch

Das schliesst unsafen Sex, barebacking und das „Schlampe“ spielen ebenfalls mit ein. (Phil Langer nennt das „beschädigte schwule Identität durch Risikoverhalten!“) Dies spielt – wie beim normalen hetero Verhalten unter so vielen Vorschriften, eine wichtige Rolle.

„Zu starke Sexualität“ wird angeblich gebremst und erzeugt bei beiden Geschlechtern offenbar Ängste, die mit Gewalt überwunden werden müssen, was wiederum ein verängstigtes Bedürfnis nach Gewalt erzeugt…

Wobei ich den Eindruck bekomme, dass Frau(en) sich in Kairo wohl um eine weibliche Identität bemühen, aber die Männer z.B. unberücksichtigt bleiben, wenn es um die Einheit mit anderen Männern geht, oder bei der Untersuchung von Spermien auf deren „Fruchtigkeit“. Traditionell wird alles über die Frau abgehandelt, sie muss sich rechtfertigen.

Wichtig und interessant ist die Feststellung El Fekis, dass sexuelle Übergriffe und Missbrauch keine sexuelle Identität verändern oder gar eine HS erst herstellen können, (Pädophilie-Vorwurf) wie das bei uns und offenbar auch dort geglaubt werden will.

Manchmal erscheint mir die Situation der ägyptischen Frauen wie diejenige von verklemmten und versteckten Schwulen. Die Gesundheits-Politik ist ähnlich wie die unserer Schwulenbewegungen anfangs des letzten Jahrhunderts.

Feki hat ein eigenes Kapitel über gleichgeschlechtlichen Sex und über Transgender geschrieben. Auch über die AktivistINNen und ihre Vorstellungen, wie sich diese auch von unseren westlichen Vorstellungen unterscheiden. Ähnlich wie früher in der Schwulenbewegung bei uns, will sozusagen keineR eine Homo-Ehe und deren Rechte einfordern, sondern überhaupt mal ein Recht auf Privatleben einklagen – nämlich für ALLE. Damit ist der Bezug zur Alle umfassenden Politik in der Gesellschaft so nahe wie er mal bei der Schwulenbewegung war.

Ein interessantes Buch für die Diskussion um die Homo-Ehe, für die Arbeit mit MigrantINNen, über Geschlechtsrollen, über Bisexualität, über Parallelsexualitäten (mit m und w), über Rollenverhalten. Generell wichtig für die Gender-Diskussionen!

Es ist anspruchsvoll, sich durch die dargestellte Frauensexualitätsgeschichten durchzuarbeiten, was nicht jedem zusagen mag. Aber wir sind nun mal alle von Frauen geboren und hängen da mit drin („schwul = weiblich“) – auch wenn wir keinen Sex mit ihnen haben!

Shereen el Feki: Sex und die Zitadelle, Hanser, 2013 (orig. engl. – jetzt auch frz.)

Es ist kein „wissenschaftliches“ Buch, sondern sehr leicht verständlich geschrieben und spannend zu lesen! Für viele aber dennoch eine Herausforderung!  Peter Thommen_63

Aktualisiert 11.6.2013

Shereen El Feki: Wie man eine Epidemie unter schlechten Gesetzen bekämpft! HIV

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bis zum eigenen Begehren

Oder: „Wer könnten wir sein, wenn wir anders sind als die Norm?“ 

Carolin Emcke hat 2012 ein vielbeachtetes und sehr persönliches Buch darüber, „wie wir begehren“ veröffentlicht. Wie immer finden Bücher von lesbisch begehrenden Frauen eine „andere“ Beachtung im heterosexuellen Publikum, als solche üblicher Autorinnen. Besonders dann, wenn sie die Partnerin einer bekannten Frau ist…

„Von außen betrachtet bin ich homosexuell. Im öffentlichen Diskurs, wenn dieses Begehren verortet werden soll, bin ich »lesbisch«, »schwul«, »eine Lesbe«, das ist dann schon ein Substantiv. Mal abgesehen davon, dass ich mich selbst so nie bezeichnen würde, ist, wie ich begehre, auf einmal keine Handlung mehr, lebendig, dynamisch, wandelbar. Wie ich begehre, das ist dann eine Identität“ (zeitmagazin, 15.3.12)

Emckes Buch wurde in den wichtigen Medien diskutiert und ich gebe hier ein paar Links zur ergänzenden und vorausgehenden Information: Verena Lueken, FAZ 4.3.2012, bei „perlentaucher“ eine Übersicht über verschiedene Ein-schätzungen, Kim Kindermann im deutschlandfunk, 15.3.2012, Daniel Schreiber in Cicero 18.3.2012, Christina Bauer (Fachärztin für Psycho-therapie), Jan Feddersen in der taz vom 10.3.2012, Ellen Kositza in Sezession, 20.3.2012,

SRF2-Reflexe (Audio), 3.4.2012: „Es ist eine sensible Erzählung über ihr Erwachsenwerden, über die Entdeckung ihrer Homosexualität und ihre Liebe zur klassischen Musik. Emcke bettet das ein in Überlegungen über das Recht auf Anderssein.“

Ich kann dieses Buch einer „frauenbegehrenden Frau“ als „Schwuler“ lesen. Damit meine ich meinen ganz persönlichen Erfahrungsschatz. Mein Blick richtet sich auf ihre Darstellung von homosexuellen Männern in dem Buch und ihr Verhältnis zu ihnen. Alles nach dem Motto: Wer sich exponiert, der/die wird kritisiert. Dies zeigt sich auch in der „hetera-sexuellen“ Sicht von Ellen Kositza (> oben)!

„Es ist ein Balanceakt zwischen der Forderung nach Anerkennung als Gleiche und der nach Anerkennung als Andere und der Erwartung, dass andere erkennen können, wann das eine und wann das andere angemessen ist, wann es sich richtig anfühlt, als schwul oder als weiblich oder als muslimisch wahrgenommen zu werden, und wann es sich verletzend anfühlt.“ ( Emcke, zeitmagazin, 15.3.12)

Mit dem obigen Zitat ist gleichzeitig auch die weibliche Sichtweise angegeben. Eine Sichtweise, die „gleitend“ ist und für mich irgendwie typisch für eine Erziehung zu weiblichem Status in einer heTerrorsexuellen Gesellschaft. Nichts ist sicher, alles offen und ein „Dank fürs Begehrtwerden durch den Mann“ nicht selbstverständlich. Ich spiele hier auf etwas an, was mir im Gespräch mit bisexuellen Männern aufgefallen ist. Männer untereinander bedanken sich in der Regel nicht für die Befriedigung durch den Anderen. Ich habe hier gegenüber bisexuellen Männern immer irgendeine unsichtbare Wand gespürt, die mich letztlich von ihrem Begehren trennte, obwohl wir uns im Sex sehr nahe waren.

Ihre Freundinnen wollen als Dank den Beweis einer Liebe, die frau Mutter ihnen wohl schon in Aussicht gestellt hat. Oder als „Sichersein“, den Bedürfnissen eines Mannes entsprochen zu haben. Frauen ficken mit der Liebe und erwarten das auch vom Mann. Dies klingt in der Rezension von Ellen Kositza irgendwie an. Wahrscheinlich geht es schwulen Männern ähnlich!? Ich habe dazu noch ein wunderbares Zitat von Martin Dannecker gefunden: …dass die Frau vor allem einen Sexualkörper, der Mann hingegen vor allem ein Sexualorgan, aber keinen sexuellen Körper hat.“ (1)

Die heterosexuelle Sichtweise von Männersex und schwulem Sex findet sich in Spuren auch bei Emckes Diskurs um die Missbrauchsdiskussion. Sie greift alte Klischees von Pädophilen auf, die Knaben missbrauchen. Und während sie kindlich-unschuldig mit ihren heterosexuellen Jugenderfahrungen umgeht, ignoriert sie die weibliche Dimension dieses Problems und handelt es politisch korrekt nur an den Männern ab. Andererseits schreibt sie wieder Sätze wie: „Es hätte ja bedeuten können, explizit zu machen, dass Jugendliche als Objekte der Lust gelten konnten, dass unsere Körper begehrenswert sein könnten. Dass wir selbst hätten begehren können, das war gänzlich unvorstellbar.

In einer Welt, in der Sexualität tabuisiert wird, in der die Lust als ambivalente, unheimliche Leerstelle firmiert, kann über Formen der Lust nicht verhandelt werden. (2)

Nur leise klingt zwischen den Zeilen an, dass dabei unwichtig ist, ob das alles in einer „reformpädagogischen“ Odenwaldschule, oder in einem strengen katholischen Internat abgeht. Totschweigen verhindert durch den verunmöglichten Dialog auch die verbale Distanzsuche zwischen den Mächtigen und den Ohnmächtigen, um zu verhandeln. Das hat Folgen!

„In einer sexuell repressiven Welt, ob muslimisch oder katholisch, in der das Entdecken der eigenen Lust unterbunden, die Pubertät abgebrochen oder in ewiger Zeitschleife gehalten wird, verbleiben erwachsene Männer in einem infantilisierten Zustand des Vor-Begehrens, gehüllt in einen Kokon der anerzogenen Scham.“

Hier klingt für mich auch die traditionelle Rolle der Frau an, die – ausschliesslich auf den Mann vertröstet, dann meist auch gleich den „Täter“ an ihrem Körper hat. Zwischen Frauen scheint das nicht stattzufinden, aber wiederum zwischen Knaben und Männern ist es „zwingend“. Sie beschreibt das als „symmetrischen“ und „asymmetrischen“ Gegensatz.

Des … „ängstlich-ahnungslosen Sehnens nach Anerkennung von dem verehrten Lehrer. Hier leugnen die Täter die eigenen Taten, weil sie das Macht- und Gewaltverhältnis leugnen. Den asymmetrischen Missbrauch, die Vergewaltigung verklären sie so zu symmetrischem Begehren.“

In der männlichen Sozialisation wurde anstelle des Dialogs oder einer genitalen Lust (bei der hetero-korrekt die Penetration als Gefahr in der Fantasie aufscheint) die Rauferei und die gewaltsame Annäherung an den gleichgeschlechtlichen Körper entwickelt und bis heute als „normal“ empfunden. (Mit Recht erwähnt Judith Butler in einem Text, dass das Tabu der Homosexualität in der Familie noch vor dem Inzesttabu etabliert wird.)

Seltsamerweise war über den Roman und Film von Christa Winsloe, „Mädchen in Uniform“ seit ihrem Erscheinen niemals von „sexuellem Missbrauch“ die Rede. Unter Mädchen gibt es keinen Penis und vor allem nur „eine Internatsschülerin, die für eine Lehrerin starke Gefühle entwickelt“. Mann und Frau lasse sich das auf der Zunge zergehen! Frau verzeihe mir den Ausdruck: Frauen ficken halt mit Gefühlen, was bei Entzug aber genauso schmerzhaft sein kann…

Ich möchte dieses Thema mit einem Hinweis auf das Gedicht „Erlkönig“ abschliessen, in dem es neu-psychoanalytisch um sexuellen Missbrauch eines Knaben durch einen Mann geht. Hingegen in dem Märchen „Hänsel und Gretel“ kann Frau nichts davon erkennen, obwohl die Hexe nicht an dem Finger von Hänsel, sondern an seinem Penis interessiert ist, ob der schon „richtig gross“ werden kann!

Carolin Emcke liebt es, Un-Eindeutigkeiten zu beschreiben und zu umschreiben. So wie sie selbst sich schon immer verstanden hat. Gender. Rumbalgen mit Jungs und alles offen lassen. Gewertet und eingeordnet wird am Ende – und nie gemeinsam…

Interessant sind ihre Beschreibungen aus Gaza, wo sie von Einheimischen begleitet wird. Sie erlebt zunächst die Begegnung mit Frauen, die traditionell gekleidet, sie mit ihren kurzen Haaren und Hosen, nicht als „Ihresgleiche“ erkennen können. Noch interessanter ist ihre Begegnung mit einen Mann, den sie wiederum nicht als „Hetero“ erkennen kann!

„Und da stand er nun vor uns, und wir schauten fassungslos auf diese Erscheinung, als sei er eine Fata Morgana, die sich gleich in gestaltloses Flirren auflösen würde: Ibrahim trug eine Jeans, einen strahlend weissen, puffigen Daunen-Anorak und eine überdimensionale Sonnenbrille, die George Michael bei seinen Konzerten in den Achtzigern hätte tragen können.“

„Schon bei den ersten Sätzen zur Begrüssung … war klar, was nicht klar sein durfte: Ibrahim war schwul. Ein Schwuler in Gaza.“

Für sie war er ein Gender, der nach europäischen Massstäben ein Schwuler war, während in Gaza natürlich kein Mensch für so einen wie ihn eine Bezeichnung hatte. Und der langsame Annäherungsprozess zu ihm als Dolmetscher verharrte in einer Art sexlosem Raum, wie es auch „territoriumslose“ Räume auf Flughäfen für Durchreisende gibt.

„Vielleicht wusste Ibrahim nicht, wie er wirkte? Woher sollte er das auch wissen? Aber musste er nicht zumindest bemerken, dass er anders aussah, sich anders gab als alle anderen jungen Männer um ihn herum? Wie konnte das sein? Wusste er nicht, wie schwul er sich gab? War er überhaupt schwul?“

Das erinnert mich an die frühen Beschreibungen orientalischer und arabischer Händler, die sich mit allerhand Tand schmückten, farbig kleideten und sich mit duftendem Parfum versorgten…

„War das Tabu zum Opfer seiner selbst geworden: Wurde Homosexualität derart unterdrückt, dass Hamas es nicht einmal erkannte, wenn ein Schwuler vor ihnen stand? Wenn über Homosexualität nicht gesprochen werden darf, dann darf auch nicht gesprochen werden, was Homosexualität ausmacht.“ (3)

Nicht einmal auf eine beiläufige aber direkte Frage nach Homosexuellen konnte der „Mann“ antworten, offenbar gab es keine entsprechende Identität oder Gender für ihn. Sehr wahrscheinlich gab es für ihn einen anderen Begriff, eine andere Auffassung, eine andere Sicht. Als Junge nahm ich zwar typische Homosexuelle zur Kenntnis, aber da ich ja nicht so erschien wie dieselben, empfand ich mich auch nicht als schwul. Ich bin zwar in der Schule und auf dem Weg gemobbt worden, aber keineR sagte je etwas über das Warum! Dabei sagte mir ein Schülerkollege später, er hätte schon immer gewusst, dass ich schwul sei.

Nach einem Angriff der Israelis auf Gaza, reiste Emcke wieder ein und begegnete erneut diesem Ibrahim. Und es war, als sei er so geschockt worden, als er ihr gegenüber erklärte, dass er schwul sei. (Leider gibt sie das Original-Wort nicht an.) Er hätte es bisher noch niemandem gesagt. Die Geschichte von Ibrahim geht in dem Buch weiter, bis zu seiner Flucht nach Europa. Die Scham von zuhause verwandelte sich: „er war froh, sich seiner Homosexualität nicht mehr schämen zu müssen, aber musste sie deswegen gleich schamlos sein?

Was mich an der Geschichte mit Ibrahim störte, ja ärgerte, war das Schweigen über die Gründe der Diskriminierung männlicher Homosexualität in Gaza. Auch wird die historische Entwicklung der Diskriminierung, erst von Männern, dann auch von Frauen völlig ignoriert. Denn Frauen waren traditionellerweise kein Teil des öffentlichen Lebensraumes! Und da Emcke sich vor allem als „queer“ versteht, musste sie auch die Geschichte mit dem § 175 in der BRD, der sich auf Männer beschränkte erst nachlesen. Die Tatsache, worauf die sozial-politische Kriminalisierung der Männer wirklich beruht, erfahren wir von ihr auf S.116, fast in der Mitte des Buches. Und welcheR LeserIN findet da noch die Verbindung zum vorher erwähnten sexuellen Missbrauch?

„Was an den männlichen biologischen Verschiedenheiten wird denn in den Begegnungsformen so bedrohlich? Analverkehr? Das ist ja keine sexuelle Praxis, die ausschliesslich Schwulen vorbehalten ist, das kann auch Frauen Lust bereiten. Oder ist es die misogyne Angst vor Penetration, die Vorstellung, dass Männer nicht nur gefickt werden können, sondern dass Männer gefickt und dadurch erregt werden könnten, die als staatsgefährdend gilt?“

Die Begehrensformen werden nicht weiter ausgeführt. Weiter hinten findet sich dann ein Satz, der mich wieder ärgert: (wie die Fragezeichen im vorhergehenden Zitat) „Homosexuelle Frauen begehren Frauen, weil sie begehren – nicht, weil sie nicht begehren.“ (S. 127) Er wird zur zentralen Aussage erst dann, wenn er wie folgt lauten würde: Menschen begehren das gleiche Geschlecht, weil sie Identität begehren, nicht, weil sie nicht begehren! (P.Thommen) (4) Emcke formuliert das so: „Aber mit Frauen ist es einfach aufregender.“ (S. 142) Und sie hat auch eine Erklärung für sich formuliert.

In einem Kapitel über Prostitution und Huren formuliert sie ihr Entsetzen über die heterosexuellen Verhältnisse und wie sie sich mit den Nutten identifiziert. (5) Frauen verstehen aber nicht den Unterschied zwischen der heterosexuellen Prostitution und der homosexuellen! Diese bietet nicht das gleiche wie in der Ehe, sondern etwas „anderes“ und sie findet nicht unter den gleichen Bedingungen statt.

S. 192 sortiert sie ihre frühen Erfahrungen neu: „Ich wollte andere Mädchen oder Frauen lieben dürfen. Und dieses Verlangen, ohne dass ich das darin enthaltene Lustvolle erkannt hätte, dieses tiefe Verlangen taucht auch auf, immer wieder, bei verschiedenen, meist älteren Frauen, nur verband ich es nie mit der Vorstellung von Homosexualität. Ich verband es nicht einmal bewusst mit „Liebe“.

Diese Definition gilt es zu respektieren, sie ist authentisch und glaubhaft. Aber es gibt auch noch schwule Sichtweisen, Erlebnisweisen, die zwar auch „gleichgeschlechtlich“ konnotiert sind, aber viel „sexueller“ ausgeprägt. Und wenn ich sexuell meine, dann bitte nicht nur „ficken“! Und hier verweise ich nochmals auf Martin Danneckers Zitat!  Peter Thommen_63, Buchhändler

P.S. Das Buch gibt Anlass zu weiteren Diskussionen dieser Art. Es enthält weitere Erzähl- und Themen-Stränge.

Carolin Emcke: Wie wir begehren, Fischer 2012, 256 S.

1) Die Geschlechtsspezifische Durchsetzung des Genitalprimats findet (nach Freud) „ihren Niederschlag auch darin .., dass die Frau vor allem einen Sexualkörper, der Mann hingegen vor allem ein Sexualorgan, aber keinen sexuellen Körper hat.“

(Indem das Sexualziel darin besteht, mit dem Penis in die Vagina einzudringen, was – wie Dannecker daraus folgert – den Penis zu seinem einzigen Sexual-organ macht.)

„Historisch betrachtet erscheint das durchaus zutreffend. Ein ganzes Bündel von Phänomenen deutet darauf hin, dass heterosexuelle Männer bis vor kurzem keinen sexuellen Körper hatten, jedenfalls nicht in dem Sinn, wie er Frauen und homosexuellen Männern eigen ist. Das will sagen, dass sich der Körper der heterosexuellen Männer der Sexualisierung entzog. Ein sexualisierbarer Körper erschien lange gleichbedeutend mit einem Frauenkörper oder einem „Schwulenkörper“ … Martin Dannecker: Männliche und weibliche Sexualität, in: Quindeau/Sigusch: Freud und das Sexuelle, S. 87)

2) Es gibt Knaben, die haben NICHT kein Begehren, sondern eben ein Begehren nach Männern, auch neben der Bereitschaft für Frauen! Aber das ist für Frau Emcke wiederum so unwichtig, wie ihr lesbisches Begehren es für die Heterokultur ist. Und es gibt nicht nur Männer, die Knaben missbrauchen, sondern auch Knaben, die Männer ficken wollen! Doch das trauen sich viele Schwule nicht öffentlich auszusprechen! Damit nimmt man/Frau uns Männern aber einfach einen Teil unserer sexuellen Biografie weg! Kriminalisiert und entsorgt in der Schublade „Missbrauch“!

3) Sinngemäss kann davon geschrieben werden, dass, wenn über männliches Begehren, vor allem nicht über dasjenige des Jüngeren zum Älteren, nicht gesprochen werden darf, dann darf auch nicht darüber gesprochen werden, was diese Liebe (Gerontophilie) ausmacht! Praktischerweise wird sie im Wort „Pädophilie“ gefasst und generell als Missbrauch entsorgt.

4) Und nicht erst politisch-korrekt ab 16, oder gar 18 Jahren! Ich wiederhole, es geht hier ums Begehren und nicht um „strafbare Handlungen“!

5) S. 145-153

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bücher sind keine bananen

Ich habe über dreissig Jahre lang meine Kunden dabei beobachten können, wie sie sich einem Buch annähern – oder auch den Magazinen und den DVDs.

Grundsätzlich – und unabhängig vom Alter – durchstreifen Männer, die auf Männer aus sind, die heterosexuellen Welten und Medien, um irgendwo auf ein Bild, einen Text oder eine Information zu stossen, die sie „verwenden“ könnten. Ausgeprägt war das zu Zeiten, als es „schwule“ Postkarten gab. Da haben eifrige Sammler alle möglichen Läden abgeklappert, um zu diesen Objekten in der so praktischen Grösse zu kommen.

In der heterosexuellen Wüste etwas Wasser finden, um sich zu erquicken, oder eine schöne Erinnerung, ein schönes Bild, das man mit nach Hause nehmen kann, um es zu besitzen. Selbst in Lokalen mit anderen Schwulen, oder mit einem Medienangebot, das sich speziell an sie richtet, pflegen Schwule wie in einem Warenhaus zu wandeln. Der kurze Überblick beim Eintreten verrät den Kenner: Diese habe ich schon gehabt, jene sind zu tuntig, zu alt oder zu jung, aber –  „für mich“ sollte es doch auch etwas geben!

So läuft es auf den ständig wechselnden Parties auch. Je grösser die Auswahl, desto höher die Chance, auf „den Richtigen“ zu stossen? Ich kannte Schwule, die sich schon früher nicht mit einer „Szene“ begnügten. Sie „machten“ die Badeanstalten, die Klappen, die öffentlichen Plätze unsicher, um Heteros aufzugabeln, die noch kein anderer Schwuler vor ihnen gehabt hatte. Der Schwulen waren ihnen zu wenige…

Noch jede Generation hat diese Verhaltensweise übernommen – bis zum heutigen Tag! Der entscheidende Punkt aber ist, wann dieses „Beuteraster“ aufgegeben wird – aufgegeben werden muss, zugunsten echter menschlicher Neugier auf ein interessantes Gegenüber, auf eine Überraschung in der Persönlichkeit, die nicht schon von vornherein – nur das eine hinten hinein – oder vorneherum das Ritual festlegt, das einem ein Lustobjekt, oder einen Fetisch zum Geniessen zuführt. Wo nicht der augenblickliche Erfolg befriedigt, sondern wo ein Bewusstsein für Community, oder für Entdeckung und Überraschung für etwas ganz anderes, einen zum Ausgehen treibt.

Ich vergleiche das gerne mit einem Kreuzworträtsel, das eigentlich immer die gleichen Wörter in neuer Kombination erraten lässt. Erfolg durch Übung und Gewohnheit ist garantiert. Das Spiel, das auch die Heteros mit den Frauen spielen…

Dagegen ist ein Buch etwas ganz anderes!

Es muss entdeckt, erfühlt, erlesen werden – und mit ausdauern der Erwartungen. So wie es – heute – mit „realen“ Personen nur selten noch geschieht. Doch diesen Aufwand zu betreiben, dazu sind Junghomos immer seltener bereit. Entweder sofort alles – mit Heiratsversprechen und eing. Partnerschaft – oder dann gar nichts, oder nur um irgendeines hohen Zugeständnisses wille – oder nur den Quickie der nichts kostet. Bananen sind eine objektive Grösse, die allen als süss und sättigend empfohlen werden können. Aber ein Buch erschliesst seine Qualität erst mit dem realen Lesen. Und wie im Leben, ist der Erfolg eben nicht im voraus garantiert. Oder er ist ganz anders als erwartet.

Auch ich bin manchmal mit meinen Empfehlungen daneben. Aber das sehe ich erst hinterher, wenn der Leser (falls er) wiederkommt und mir ein Echo gibt. Aber dann hat er das Buch schon gelesen und bezahlt – auf MEIN Risiko natürlich! 😉

Ganz einfach machen es sich Leser mit der wichtigtuerischen Frage: „Muss man das gelesen haben?“ So wie ein Spiessbürger fragt, ob er diesen oder jenen unbedingt kennen sollte, weil es für ihn Vorteile bringt – welche Leute das sind, das ist ihm vorab egal.

Keiner kann alle Bücher „vorher“ lesen, um dann zu wissen, was er „nachher“ hätte gelesen haben müssen! Diesen Umstand machen sich zB Buchversandfirmen zu nutze, indem sie einfach die Werbetexte von Verlagen übernehmen – für die sie ja nicht verantwortlich gemacht werden können – und das Risiko den Käufern zuschieben. Auch der Hinweis auf Bücher, die von Käufern „auch noch“ bestellt wurden, ist nutzlos, denn vielleicht hat er diese gar nicht für sich selbst bestellt. Da ist guter Rat teuer – im doppelten Sinne.

Mit den Büchern ist es wie mit den Menschen. Keiner ist für alle empfehlenswert und doch kann er diesem und jenem etwas bringen. Das geht nur durch reale Erfahrungen und deren Tausch. Durch Gespräche und Argumente. Werbung ist wie Partyklatsch und Kritiken wie üble Nachrede. Was dem einen auf den Leib geschrieben ist, ist für einen Anderen wie Klopapier. In Bananen kann man einfach hinein beissen und weiss sofort, ob sie süss und appetitlich sind.

Ein Buchladen ist kein Warenhaus, das man „er – leben“ und wo man einfach nur wählen kann – aus tausend Dingen, die jedem etwas bringen. Schon oft hatte ich die Fantasie, eine Turnhalle zu mieten und ein paar Lastwagen mit Pornos darin abzuladen. Dann Schwule darin einzuschliessen und sie wühlen zu lassen. Ganz bestimmt würden sie erst aufmerken, wenn sie auch das unterste Bild im grossen Haufen endlich haben sehen können! 😉

Es gibt Leute, die treten in meinen Laden ein, fangen links unten bei der Türe an und hören erst wieder rechts oben vor dem Ausgang auf. Sie kommen still und gehen – meistens fragenden Gesichtes – wieder hinaus. Da war leider nichts zu finden, das sie angelacht, oder angemacht hätte. Dabei vermitteln solche oft das Gefühl, als hätten sie ein Recht auf etwas, das sie selber nicht zu wissen glauben, aber von Anderen erwarten dürften.

Nicht jeder mag angesprochen und gefragt werden. Aber wenn er denn nur preisgibt, was er vorher gelesen und ob es ihm gefallen hat, dann ist da schon ein Weg zu anderen oder ähnlichen Büchern vorgespurt. Ob einer „vorher“ überhaupt etwas gelesen hatte? Mir kommt es auch immer wie ein Abenteuer vor! Hat einer alles angeguckt und steht enttäuscht vor dem Regal. Dann wag ich, ihn zu fragen. Und manchmal hat einer letztlich mit mir zusammen zu einem Text gefunden, den er gar nicht gesucht hatte.

Doch wie soll sich ein Gespräch entwickeln, wenn die Kommunikation gestört und das Abenteuer nur im Beutemachen zu finden ist? Wie ist ein Mensch zum Reden zu bringen, so dass er wiederum und seinerseits davon profitieren kann? Es ist bei Büchern und Menschen gleich: Nicht immer ist drin, was draufsteht!

Da erinnere ich mich nostalgisch an die Anfänge im Elletlui, wo der Barman mit allen sprach und nebst dem Getränk auch noch seine Wünsche nach und nach erfahren hat. Gar mancher Gast ist da vermittelt worden und ist am Ende des Drinks zu zweit hinausgegangen. Und manchmal geht ein Kunde auch mit zwei oder drei Büchern wieder zum Laden hinaus, weil ich – zufällig – von ihm erfahren habe, welcher Art von Leselust sein „Fetisch“ ist! Die Freude verdoppelt sich.

Doch ich fürchte, diese Bereitschaft – und die Fähigkeit dazu, nehmen nur ab. Und die „Therapie“ des Buchhändlers wird endlich durch die Werbung völlig ersetzt. Das Buch prostituiert sich selbst an seine Leser. So wie es die Menschen schon lange gegenseitig tun.

Peter Thommen, Buchhändler_62

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Eine starke Frau und ein kindlicher Liebhaber

Zum Verständnis der Geschichte: Im Januar meldete Blick die Story einer Handballtrainerin, die sich auf ein Verhältnis mit einem ihrer Schüler eingelassen hatte, damals 13 Jahre alt. Die Frau erhielt von der österreichischen Justiz wegen Verführung eines Minderjährigen 22 Monate auf Bewährung. *

Renata Juras hat als betroffene „Täterin“ ein Buch geschrieben, in dem sie auf ihr LehrerIN-Schüler-Verhältnis eingeht. Wir sollten davon ausgehen, dass der Text nicht identisch ist mit den Strafakten. Ich schildere daher auch nur meinen persönlichen Eindruck über einen sicher sorgfältig edierten Text.

Als Schwuler ist mir aufgefallen, wie sehr die Lehrerin eine männliche Rolle spielt. Ob das etwas mit ihrer kroatischen Herkunft zu tun hat, sei mal dahingestellt. Für einen Jungen kann das eine „queere“ Funktion bekommen. Ich meine damit eine Dimension über die Geschlechtsrolle hinaus ins Spekulative. So wie meine Freundschaften zu älteren Frauen eine Alternative zu meiner Mutterbeziehung waren und sind – neben meiner homosexuellen Orientierung.

In der Geschichte wird anfangs nur erzählt, dass die Mutter des Jungen einen Freund hat. Sein Stiefvater ist abwesend und kommt erst am Ende ins Spiel. Bis zur Mitte des Buches verläuft alles „normal“ und zufällig. Bis sie auf klare Signale des Jungen stösst. Interessant ist, wie sie diese interpretiert. Bald klärt der Junge bei seiner Mutter ab, ob sie etwas gegen diese Beziehung habe. Viele Heteros finden alles auch relativ „normal“ – abgesehen vom Alter des Liebhabers vielleicht. Erst um das neunte Kapitel herum kommt die Autorin auf ihre persönlichen Beweggründe und Leidenschaften zu sprechen.

Aus der männlichen Perspektive ist es nicht gut, wenn ein Junge von seiner Mutter an eine andere einfach „weitergereicht“ wird. Vor allem, wenn auch in der Freizeit eine Frau die dominierende Bezugsperson spielt. Die nicht unbedingt bewusste allgemeine Homophobie in den Familien erleichtert das. (Ich las darüber eine witzige Kolumne) Mir erscheint alles wie ein stummer „Pakt unter Frauen“.

Begeisterte Leserbriefe zu solchen „Liebesverhältnissen“ in der Presse und online, bestätigen mir auch, dass Freud seinen Ödipus nur nach den Äusserlichkeiten formuliert hat. Nach seiner hetero Theorie begehren die Kinder jeweils ihren verschieden geschlechtlichen Elternteil. Aber der „innere“ Anteil der erotischen Dynamik wird dabei übersehen. Wenn doch Kinder wirklich „unschuldig“ sein sollten, dann müssen sie von den Eltern – oder eben dann von den „bösen Pädophilen ausserhalb sexualisiert“ worden sein, wie das Frauen immer monieren – aber zwischen der Homo- und der „heiligen Heterosexualität“ einen grossen Unterschied machen. Als Schwuler stehe ich da ausserhalb und kann nur Fragen stellen. Solche, die sich die ältere Geliebte offensichtlich niemals stellen musste.

Wenden wir uns also der Sichtweise der Autorin/Täterin zu. Von Sex war bisher noch nicht die Rede, nur von Ahnungen, von überwältigenden Gefühlen! Sie schildert ihre inneren Beweggründe, warum sie sich auf den Jungen eingelassen hat, wie folgt.

„Ich wusste lange genug, dass ich diesen Jungen liebte. Dieser Kuss war wie die Antwort auf die Frage, ob unser Traum doch Wirklichkeit sein konnte.“ (S. 85)

„Er war zärtlich, klar und offenbar wild entschlossen. Wieder fühlte ich mich jünger als er, im Ungewissen, was nun passieren würde. Er liess meine Hand nicht los und ich fühlte den Puls in seinen Fingerspitzen. Ich wusste, wie alt er war, aber ich wusste in diesem Moment nicht, dass das Gesetz unsere körperliche Liebe verbot. Ich wusste, dass er zum ersten Mal mit einer Frau zusammen war. Ich wusste dass er mein Spieler war. Aber ich spürte nur einen Mann und eine Frau.“ (S. 85)

Aus dem bisherigen Buchtext geht nicht hervor, dass sich die beiden über ihre Vergangenheit ausgetauscht hätten. Sie konnte eigentlich nichts davon wissen. Oder erst im Nachhinein. Und das mit dem Gesetz musste sie – wenn nicht als Mutter oder bereits Ehefrau – wenigstens als Trainerin wissen –  sie hatte es einfach verdrängt. Aber soweit geht ihre textuelle Offenbarung nicht.

„Ich spürte, wie Tränen aufstiegen, fühlte mich vollkommen verletzlich, ausgeliefert und unsicher. Ich war siebenundzwanzig Jahre älter als Ervin. Diese Realität traf mich härter als in den letzten Tagen.“ (S. 86)

So wie sie oben nur Mann und Frau spürte, so übernimmt sie auch hier – trotz ihrer männlichen Trainer-Rolle und ihrer persönlichen Dominanz – die verletzliche Mädchenrolle, wie es ihr in der Heterosexualität zusteht. Sie redeten bei alle Treffen eigentlich „nicht viel“.

„Als ich zur Tür hinausging, wusste ich, dass Ervin aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken war.“ (S. 87)

Als Schwuler staune ich immer wieder, wie überzeugt Frauen über Männer dies und jenes „wissen“. Und für fast alle Frauen gibt es eben nur Männer – keine Schwulen, oder wenigstens Bisexuelle. Und als Schwuler, der auch sehr viel mit heterosexuell orientierten Männern Sex hat (lieben wäre für sie zu schwul!), weiss ich und lese ich immer wieder in Foren, wie unverstanden sie sich oft von Frauen in ihrer Sexualität fühlen. Eigentlich ist es eben „nur ein Spiel“.

Jungs – und um die geht es mir, weil Mädchen höchstens als eigenes Rollenspiel bei der Täterin hier auftauchen, wollen in erster Linie so sein wie Erwachsene. Diese Rolle wird ihnen auch sozial und familiär aufgetragen. Und Renata gesteht diese ihrem kindlichen Liebhaber sofort zu. Noch bevor sie wirklich wissen was sie selbst wollen, wollen Kinder „den gleichen Sex“ nachmachen wie die Erwachsenen, die ihn aber wiederum für sich reserviert haben. Den „richtigen“ Sex. Aber der ist normalerweise in der Familie nicht und ausserhalb nur schwer zu haben. Es kommt eher vor, dass der Vater mit seinem Sohn zu einer „Fachfrau“ geht und diese auch noch bezahlt. Mütter gehen eh mit ihren Söhnen nirgendwo hin, sie würden sonst eifersüchtig. Solche Gedanken bewegen mich beim lesen dieser Geschichte. Es gäbe wohl noch mehr anzuführen…

Bald folgt der offizielle „Treff der Mütter“:

„Ich versuchte, mich in ihre Lage zu versetzen. Wenn meine Tochter Emily in einen einundvierzigjährigen Mann verliebt gewesen wäre, wäre ich mit Sicherheit ausgeflippt und hätte den Mann zum Teufel geschickt. … Ein Mann, auch wenn er jung ist, weiss besser, was er will. Und vor allem weiss er ganz genau, was er nicht will.“ (S. 91/92)

Das vermisse ich oft bei Gerichtsberichten über Knaben, die von Männern „sexuell missbraucht“ worden sind. Im Grunde genommen ist die Homosexualität ja schon der sexuelle Missbrauch. So einfach ist das. Und was ist mit den schwulen Männern, die sich als Junge erst in die Heterosexualität mit Frauen verirren?

Die Schwiegermutter: „Weisst Du, Renata, ich habe die ganze Sache wahrscheinlich schon viel früher bemerkt als du. Ich habe euch ja oft genug beim Training zugesehen. Ervin hat dich ständig mit seinen Blicken verfolgt.“  (Wie aufmerksam!)

Judith hatte unsere Liebe tatsächlich früher erkannt als Ervin und ich. Aber schliesslich war sie seine Mutter. Ich wusste nur zu gut, wie es sich anfühlt, wenn man sein Kind liebt und kennt.“ (S. 92)

Als Schwuler ist mir schon längst klar, dass Mütter die homosexuelle „Orientierung“ ihrer Söhne erkennen müssen, „wenn sie sie lieben“ (?). Doch die meisten geben auf Befragung an, sie hätten keine Ahnung gehabt. Wenige schweigen sie tot und einige wehren sich wie Löwinnen dagegen. Und auch in dem Buch über die Frau und den Jungen schwebt eine Stimmung von: Worüber nicht geredet wird, das kann es nicht geben. Drum hat die Täterin ja auch ein Buch geschrieben – weil es ihre Liebe geben soll. Und das ist auch gut so! Und worüber darin nicht geschrieben wird, das hat es auch nicht gegeben. 😉

„Und habt ihr euch schon geküsst?“ fragt eine Tochter von Renata bei der kritischen Familienkonferenz zuhause.

„Ich lächelte verlegen und nahm meine beiden grossen Mädchen fest in die Arme. Wir waren nicht länger nur zwei Generationen von Frauen, sondern drei Frauen, die die gleiche Sprache sprachen.“ (S. 98)

Es war im Buch natürlich nie die Rede davon, dass Knaben und Frauen NICHT die gleiche Sprache sprechen! Und jetzt endlich kommt ihr „Noch-Ehemann“ ins Spiel. „Wäre meine Familie dagegen gewesen, hätte ich mich gegen meine Liebe entschieden.“ (S. 99)

Ihr Noch-Ehemann nahm die Sache gefasst und fragte sie nur, ob sie glücklich sei. Und hier endlich werden Schuldgefühle sichtbar: „Ich bin sehr glücklich, aber ich habe Schuldgefühle.“ Und nachdem er weiss, wer es ist: „Denkst du jetzt, ich bin eine Rabenmutter?“ (S. 108)

Schön, wenn die eigenen Töchter, der eigene Noch-Ehemann, nahe Bekannte, die „Schwiegermutter“ alle einem nicht den Krieg erklären, wie das bei einem gleichgeschlechtlichen Verhältnis garantiert der Fall wäre. Doch da waren noch Familienangehörige der anderen Familie einzuweihen. Der Stiefvater von Ervin hatte gefragt, ob sie beide schon miteinander geschlafen hätten. (Im Buch ist bis hierhin immer noch nichts Sexuelles erwähnt worden).

„Ervin sah mich nun direkt an. Ich stieg versehentlich kurz auf die Bremse und das Auto hoppelte. Und? Nichts. Ich habe die Wahrheit gesagt.“ (S. 114)

Der Stiefvater und die Liebhaberin sind sich nicht sympathisch. Das hatte sie schon vorher irgendwie gespürt. Es war nett, dass man sich mal in einem Café und kurz vor einem Training kennengelernt hatte. Dieser Stefan erstattet dann auch Anzeige. Es war ja eigentlich auch Pflicht für ihn. Die Frauen alle dachten gar nicht erst an so was.

Die Einvernahme soll etwa eine Stunde gedauert haben. „Ich habe die Wahrheit gesagt, wie du mir geraten hast. Ich sagte, dass es stimmt“. Er sah mich mit trotziger Miene an. „Ich habe ganz ruhig gesagt, dass wir zusammen sind und dass wir Sex gehabt haben.“ Dann hat die Frau noch gefragt, ob Zwang oder Gewalt im Spiel waren. Da hab ich natürlich verneint.“ Ervin sah abwesend und nachdenklich aus. Er zögerte kurz. „Da hab ich deutlich gespürt, dass sie mir in dem Moment nicht richtig geglaubt haben.“ (S. 129)

Wir erfahren erstmals am Ende des zweiten Drittels des Buches, dass die beiden auch Sex gehabt haben. Doch nur über den Umweg über die Aussage Ervins vor der österreichischen Polizei. Hier erinnere ich mich an Jungs, die niemals so lange warten könnten, bis sie zu ihrem Sex kommen. Mein Ex hätte niemals so lange gewartet – im Alter von 15 Jahren. Und die Jungs sind mit Eifer dabei, ihr Können zu erproben oder zu beweisen. Auch mit Männern! Aber für diese Frau und andere zählt nur die Liebe, die nirgendwo als „unsere Liebe“ formuliert worden ist, soweit ich mich erinnere.

Ja, ich weiss, es gibt immer Ausnahmen. Was sagte nun die Mutter des glücklichen Jungen vor der Polizei aus? „Na ja, als sie Mama gefragt haben, warum sie das mit uns erlaubt hat, hat sie gemeint, dass sie nichts dagegen tun kann und will, wenn ihr Sohn sich verliebt. … Dass sie mich nicht rund um die Uhr einsperren und beobachten kann. Sie hat gesagt, dass sie es vorzieht, offen mit mir zu reden und so eine gewisse Kontrolle zu behalten. Ervin nahm meine Hand. „Am Schluss hat sie noch gesagt, dass sie die Anzeige von Stefan dumm findet.“ (S. 130)

Das Liebespaar wusste angeblich nicht, dass ihre „wahre Liebe“ von Gesetzes wegen strafbar war. Mich erstaunt nur, dass es bei homosexuellen Liebesverhältnissen immer alle wissen! Immerhin darf Frau in Österreich  ab 14 Jahren schon Liebhaber haben, sowohl männlichen als auch weiblichen Geschlechts. Für Männer war es lange Zeit höher. Und die „Gleichbestrafung“ musste schwer erkämpft werden.

„Ervin wollte für mich da sein. So sollte es sein, fand ich, ein Mann sollte seine Frau beschützen wollen. Ich wusste, dass Ervin genau darunter leiden würde: Mir nicht helfen zu können. Es würde ihm seine Machtlosigkeit vor Augen führen und seine Schuldgefühle übergross werden lassen. Er fühlte sich für die Situation verantwortlich.“ (S. 132)

Als Schwuler kann ich nur feststellen, in gleichgeschlechtlichen Verhältnissen gilt all das nicht. Es geht dort vor allem darum, den Jungs beizubringen, dass sie in jedem Fall sexuell missbraucht worden sind. Aber eigentlich geht es darum, dass nicht politisch richtig gefickt wird. Und da kann dann auch kein Verständnis aufkommen für eine „wahre Liebe“, die nicht weiss, dass sie dafür bestraft wird. Wenn Renata sich fragt, warum Stefan (der Stiefvater von Ervin und Anzeigensteller) „so etwas tut“, so fragen sich viele heterosexuelle Frauen bei homosexuellen Verhältnissen genau umgekehrt: Warum sollte frau „so etwas nicht tun?“ Immerhin dachte die Täterin darüber nach, „dass Stefan vielleicht Angst davor hatte, seinen Sohn an mich zu verlieren.“  (S. 135) Frauen sind sich immer ganz gewiss, dass sie ihre Söhne – an Männer – verlieren…

Es blieb noch das Gespräch mit der Fussballmannschaft. „Jungs, hört mal zu, begann ich, „ich möchte mit euch reden, aber nur mit den älteren Spielern. Die Kleinen können schon gehen.“ Ich wollte nicht, dass die Jungs Jahrgang 99 und 2000 mit dieser Geschichte belastet wurden.“ (S. 137)

Tja, die grossen Jungs werden es den Kleinen wohl voller Stolz erzählt haben. Wie kann Frau nur so naiv denken und handeln? Und die kleinen Jungs sind ja auch nicht blind. Werden aber gerne von Müttern dafür gehalten. Nichts desto trotz macht es sie glücklich, dass Ervin dann ein Kind von ihr will und dass die Liebe über alles gesiegt hat.

Bei fast allen homosexuellen Liebesverhältnissen siegt aber das Gesetz. Und dabei ist egal, ob es die grosse Liebe, das Erstemal oder Unkenntnis war.

Peter Thommen_62

 

Renata Juras: 41 und 14, edition a, Österreich, 184 S. CHF 24.-

 

* Fortsetzung der Vorbemerkungen:  Weitere Fälle wurden von Blick als „Sex-Lehrerinnen“ bezeichnet und nur ein Fall enthielt die Bezeichnung „Kinderschänderin“. Aufgefallen sind mir Leser-Reaktionen darauf, die schon immer von solchen Partnerinnen in der Jugend geträumt haben wollen…

Zum Verständnis des Autors dieser Besprechungs: Ich bin 62 Jahre alt, von Kind an homosexuell und dann konsequent schwul. Das hielt mich aber nicht davon ab, mich in die Lehrerin des ersten Schuljahres und diejenige des letzten Schuljahres ein wenig zu verlieben. Meine Grossmutter war meine erste alternative Mutter und seit etwa 40 Jahren hatte ich immer wieder zufällige Freundschaften mit älteren Frauen. Mehr nicht.

Anfangs 30 hatte mich ein 15jähriger Junge angemacht und ich war etwa 2 Jahre mit ihm zusammen. Meine Präferenz ist bei Anfang 20…  Ich selbst hatte nie Sex mit älteren Männern oder Frauen.

Es wird immer nur über „Pädophilie“ geschrieben – es muss auch die Gerontophilie von seiten der Jüngeren geben, wir können nicht alles einfach im „sexuellen Missbrauch“ entsorgen.

Dalida, ein bewegendes Lied über einen 18jährigen Liebhaber (es war ursprünglich ein 16jähriger)

Alles wird gut, wenn der Knabe und seine Liebhaberin ein Kind erwarten!

Hier live auf youtube, mit dem gemeinsamen Kind – als Beispiel zusammen mit anderen jung mit ältere  Verliebten.

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Ein weiteres Buch zum Thema ältere Frau – jüngerer Liebhaber (im gesetzlich erlaubten Bereich)

Alissa Nutting, Tampa (HoCa 2013)  Eine junge Frau jagt 14jährige Jungs. Sie tut dies letztlich als „Phantasie“ ab und bleibt unbehelligt!

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«Brokeback Mountain» als “biblischer” Sündenfall

Viele haben den Film gesehen und wurden darin bestätigt, dass Liebe und Sex zwischen Männern sehr schön sein kann, dass sie aber in unserer Kultur keine Chance, respektive keinen Platz hat…

Doch in dem Film wird nicht nur die Sexualität „überspielt“, der Regisseur Ang Lee spielte auch mit den Urkonflikten aus der Bibel. Dies gesehen und beschrieben hat Kathrin Geyh, eine junge Filmemacherin. Studium der Kommunikationswissenschaften und Arbeit bei Amalia-Film.de

Sie kann sich wiederum auf zahlreiche Besprechungen und Kommentare über den Film stützen. „Das Buch „On Brokeback Mountain“ von Eric Patterson umfasst sieben Essays, in denen die Themen des Films, wie gleichgeschlechtliche Liebe, Homophobie oder gesellschaftliche Repressionen in einen kulturgeschichtlichen Kontext gesetzt werden. Die fünfzehn Aufsätze unterschiedlicher Autoren, die Jim Stacy in „Reading Brokeback Mountain“ zusammenstellte, behandeln zusätzlich die filmrezeptorische Ebene und stellen dar, welches Publikum auf welche Art und Weise und warum kontrovers oder befürwortend auf den Film reagierte; oder wie sich bei den Zuschauern das Image homosexueller Männer dadurch veränderte, dass Ennis und Jack mit Heath Ledger und Jack Gyllenhaal besetzt wurden.“ (Aus der Einleitung)

Sie geht den Beweggründen, Handlungen und Emotionen des Films nach und sucht die Symbole in den biblischen Geschichten von Genesis und im Sündenfall. Sie erkennt ganze Handlungsstränge des Films darin wieder. Dies gibt dem Film eine zusätzliche Tiefendimension, die auch bei Fundis und Konservativen heftige Gefühle auslösen musste.

Die Autorin bietet anfangs eine kurze Übersicht der Handlungsgeschichte des Films und schliesst daran eine Rezeption der biblischen Aussagen, die sie heranzieht. Beim Brudermord der ersten Kinder stellt sie fest: „… doch da Kain und Abel eben nicht Adam und Eva sind, kommt die Übertragbarkeit ihrer Geschichte auf den Film an eine deutliche Grenze“. (S. 27)

(Nachdem ich eine „Lange Nacht“ über Totem und Tabu bei Deutschlandradio verfolgt habe, über Vatermord und Sohnestod, am Beispiel von Abraham und Isaak, sowie Gott und Jesus und den damit verbundenen Erlösungswünschen, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass die „Bruderliebe“ – sozusagen in der zweiten Menschheitsgeneration – noch einbezogen werden sollte…

Homosexuelle Männer („warme Brüder“) trugen ja offensichtlich ein „Kainszeichen“.) Alles Männergeschichten aus der Urzeit – nicht zu vergessen die noch ältere Liebe von Gilgamesch und Enkidu.)

Es ist faszinierend, neue Zusammenhänge dazu zu finden, gerade für die aktuellen Diskussionen mit der Kirche und mit den „religiösen Wurzeln des Tabus Homosexualität“ (John Lauritsen, 1974/1983 dt). Dabei geht es im Wesentlichen um Männerbeziehungen, nicht um ausschliesslich homosexuell definierte!

Geyh stellt ihrer Arbeit eine Darstellung des Sündenfalls anhand von Gemälden der Kunstgeschichte voran. Dann geht sie auf die Allegorie ein, die sie – oft unterbewusst – aktivieren. (Uns vertrautes Beispiel: Die weibliche Helvetia als Allegorie/Symbol der Schweiz, oder die Frau mit der Zipfelmütze für Frankreich) Im zweiten Teil des Buches dann nimmt sie sich die Elemente dieses Sündenfalls einzeln vor und liefert die Bibelzitate gleich mit. Im letzten Viertel zitiert sie interessante Texte verschiedener Autorinnen und Autoren.

„In Brokeback Mountain wird nun eine homosexuelle Beziehung in die Natur platziert und erzählt, dass die Protagonisten ihren wahren Gefühlen entsprechend leben können. Dadurch entsteht eine neue Gruppierung. (PT, ich würde es als Wertung bezeichnen)

Wo es vorher hiess: natürlich = gut, wird im Film etwas mit „natürlich“ in Bezug gesetzt, was von einer Mehrheit der konservativen Gläubigen – im Judentum, Christentum und Islam – als nicht gut deklariert wird. Die neue Paarung im Film lautet also: Homosexualität = natürlich (ihr Ort ist die Natur), Heterosexualität = unnatürlich (die Protagonisten heiraten später in der Stadt, PT). Das muss für Kontroversen sorgen.“ (S. 56)

„Es stellt sich die Frage nach der Gesamtaussage der zwei Geschichten. Welche Haltung offenbart der Film und was soll der ‚Sündenfall’ nachfolgenden Generationen mitgeben?“ (S. 135)

Während die aktuelle „queer“-Diskussion – unter dem Eindruck von Homo-Ehe und traditioneller Zweierbeziehung dazu neigt, homosexuelle Kontakte ihrer Exklusivität zu entkleiden, um sie „unsichtbar“ zu integrieren, meint Geyh: „Denn es geht ja gerade nicht um einen Konflikt zwischen Gesellschaftsschichten oder Religionen, Jack und Ennis sind eben nicht Romeo und Julia. Sie sind zwei Männer, die einander lieben.

Mit Blick auf die Unfähigkeit, den Film als das zu benennen, was er ist, nähern wir uns seinem tatsächlichen Thema. Denn es fällt auf, dass auch die beiden Hauptfiguren Schwierigkeiten haben, das, was ist, zu benennen. Sie äussern sich nie wirklich dazu, was sie füreinander empfinden, sie sprechen ihre Emotionen kaum an, weder sich noch anderen gegenüber, gemäss dem Motto: So lange man es nicht äussert, besteht es nicht. Ennis kann nicht sagen, was er fühlt oder ist; er kann nur sagen, was er nicht ist.“ (S. 135-136)

…“Das macht deutlich, dass der Film hier weniger das Bild einer verurteilenden Gesellschaft zeigen möchte, sondern das Bild eines verurteilenden und gewalttätigen Ichs. Es geht um die fehlende eigene Akzeptanz; es ist die eigene Entwertung.“ (S. 136)

Und das ist es, was verheerende Auswirkungen auf die Psyche von Männern, Bisexuellen und Schwulen hat! So ein Liebesleben MUSS in der Scheisse enden. Wortwörtlich!! Es MUSS krank machen! Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung sozusagen. Und ich verfolge das auf vielen Profilen und in Diskussionsforen Bisexueller – seit über 10 Jahren!

Und bei Adam und Eva: „Aber mehr noch als ein soziales Regulativ ist die Gottesebenbildlichkeit für Gläubige ein Regulativ, das die eigene Haltung zu sich selbst bestimmen kann. Ihnen ist sie ein göttliches Schild gegen Minderwertigkeitskomplexe, gegen Aburteilungen des eigenen Inneren, eine göttliche Abwehr gegen die Unfähigkeit, sich selbst nicht lieben zu können. … im Gefühl, dass die Gottesebenbildlichkeit einer Schlechtheit gewichen ist; dass Gottes ursprünglich liebevoller Blick auf sie vernichtend ist, da ihr eigener Blick auf sich selbst vernichtend ist. So betrachtet erzählt auch der Text von den Konsequenzen innerer Ablehnung und trifft sich auch auf dieser Ebene mit dem Film.“ (S. 137)

Peter Thommen_62 

Kathrin Geyh: Das Helle braucht das Dunkle. Der biblische Sündenfall in „Brokeback Mountain“, Universitäts Verlag Konstanz 2011, 175 S. € 24.- / off. CHF 34.90

Siehe auch: Thommen, hallo „bisexueller“ Boy!

 

P.S. Miriam Daré weist in ihrer Besprechung einer Story-Szene, die nicht im Film vorkommt, auf weitere psychoanalytische Dimensionen hin. (Zschrf klass. PsyAnalyse, Heft 1, 2007, S. 66-79)  Es handelt sich um eine Erniedrigung und Gewalttat des Vaters Twist gegenüber seinem Sohn Jack: Er verprügelt und bepisst ihn auf dem WC, weil dieser daneben pinkelte. ( „Verpiss Dich!“ – wobei jeweils das Ich am Anfang fehlt… ) Dieser nicht so seltene Fetisch unter Männern erstaunt nicht. Die Handlung ist so tabuisiert, so dass sie auch im Internet nicht benannt wird! (Die Empfindung ist zugleich Wärme und Erniedrigung!)

Erstaunlich für mich ist, dass ich bis jetzt nur von Frauen gelesen habe, die sich diesem Diskurs stellten: Annie Proulx (Autorin der Geschichte), Kathrin Geyh, (Autorin des hier besprochenen Buches über die Geschichte) und Miriam Daré, die aus der Ecke der klassischen PSA schreibt. Männer haben sich nach meinem Wissen noch nicht daran gewagt? (Ausser Ang Lee, dem Regisseur)!  

Nachtrag: Siehe auch den interessanten Beitrag von Andreas Krass: Metrosexualität. Wie schwul ist der moderne Mann? Darin nimmt er einleitend Bezug auf Marks Simpson und den Film „Brokeback Moutain“ und bemerkt, dass dieser eine „heterosexuelle Veranstaltung“ sei und zwei heterosexuelle Männer eine homosexuelle Affäre hätten. Im Weiteren würden sich Heteros damit beweisen, wie tolerant sie doch heutzutage seien…  In: Queer Lectures, April 2008, S. 108-141

Peter Thommen_62, Buchhändler, Schwulenaktivist, Basel

 

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mit dem Bruder der Freundin…

Der Student Javier führt ein unbeschwertes heterosexuelles Leben und hat auch eine Freundin. Who cares? Doch diese hat einen jüngeren Bruder, der bald seinen Schulabschluss machen sollte und zuviel herumgelümmelt hat. Es ist Sommer. Es sind Ferien. Und es regnet auch mal.

An diesen langweiligen Nachmittagen heisst es für José, Verpasstes nachzuholen und zu pauken. Javier hatte sich entschlossen, dem Jungen das fehlende Wissen beizubringen und dieser war entschlossen, es doch noch zu schaffen. Doch die regelmässige Nähe und die Willensstärke der beiden Männer kombinieren sich zu einem dramatischen Kampf um Leidenschaft. Es geht um Schönheit, Jugend und die Macht der Anziehung. Für Schwule ist das die klassische Dramaturgie der Ungewissheit, der Überraschung oder Enttäuschung. Für Heteros bringt es Zweifel an ihrer Orientierung und ein schlechtes Gewissen gegenüber Frauen.

Abgesehen von zwei Sexszenen ist die Erzählung spannend aufgebaut. Der Autor führt den Leser schlau durch die Sehnsüchte verpasster Gelegenheiten, die keiner real wagen würde, zu ergreifen.

Luis Algorri: Du hörst von mir, Gmünder 2009, 200 S. CHF ca. 16.–

 

Als bewegter Schwuler allerdings frage ich: Hat sich in den letzten Jahrzehnten denn immer noch nichts geändert? Heteros suchen meistens im engeren persönlichen Umfeld nach heissen Kontakten und begeben sich in heikle Situationen. Klemmschwestern machens ihnen nach, weil sie nicht aus ihren Eierschalen herauskommen wollen. Muss es immer eine tolle Hochzeit sein, die vorab eine dauerhafte Ehe verspricht? Muss es immer „das Schicksal“ sein, das die Begehren offenbart?  Können es nicht auch Zufälligkeiten und spontane Offenheit sein, die Genuss und Befriedigung in die Ferien bringen? Da können Gefühle auch Platz haben und den Alltag bereichern. Vielleicht könnten sich dabei gewisse Heteros und Schwule auch real wiederfinden und ebenso leidenschaftlich Sex und Freundschaft erleben, statt Ausnahmesituationen zu missbrauchen und dann wieder alles zu verdrängen!

Möchtest Du mehr darüber lesen und nachdenken, dann schau auf meinem alten Blog! (weitere Texte unter dem Stichwort „bisex“!)

oder auch hier  Hallo bisexueller Boy! 

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Harare ist nicht Mauthausen

Tendai Huchu erzählt uns über einen Friesiersalon in Harare, der wie überall in der Welt ein reales Netzwerk von Menschen darstellt, worüber sie einander mitteilen, klatschen und helfen. Worüber auch Neid, Missgunst und Eifersucht laufen und worin sich manche Biografien kreuzen. In Afrika werden Frauen von Frauen und Männer von Männern frisiert. Als eines Tages ein junger attraktiver Mann auftaucht, der den Kundinnen schöne Augen und moderne Frisuren macht und den weiblichen Angestellten harte Konkurrenz, geraten die Gewohnheiten aus den Fugen. Der Autor schreibt aus der weiblichen Perspektive von Vimbai, die ein uneheliches Kind und einen Haushalt durchzubringen hat. Nicht leicht bei den desaströsen wirtschaftlichen Verhältnissen in Zimbabwe. Wie sehr sind die Leute auf Handreichungen und Beziehungen angewiesen, um überleben zu können! Als Klienten aus dem Staatsapparat und bald auch Ministergattinnen auftauchen, weil sie von dem neuen Coiffeur Dumisani gehört haben, beginnt der kleine Kosmos zu wackeln. Erfahrung wird beiseite geschoben, Ideen und Innovationen von Dumisani bringen das Geschäft zum blühen. Vimbai sieht sich und ihr Karriere in Frage gestellt. Trotzdem nimmt sie den attraktiven Kollegen in Untermiete auf, um etwas Geld dazu zu verdienen. Er kümmert sich auch rührend um ihre Tochter und ist ein rücksichtsvoller Wohnpartner. Beide haben Probleme mit der Familie, weil sie nicht in die Normen passen. Als Dumisanis Bruder heiratet, nimmt er sie als Freundin mit an die Hochzeitsfeier, wo sie von der „Schwiegerfamilie“ mit offenen Armen empfangen wird. Sie schwimmt im Glück, als man ihr zu einem eigenen Salon verhilft. Schon macht sie sich Hoffnungen auf eine eigene Familie, als sie zu forschen beginnt, welches Problem denn ihr Zukünftiger vor ihr verbirgt. In dessen Abwesenheit durchsucht sie sein Zimmer und findet unter der Matratze den Schlüssel zu dem Geheimnis. Als gläubige Frau sucht sie Rat bei einer Regierungsstelle und verwickelt sich in tragischer Weise mit dem Schicksal Dumisanis. Zu spät realisiert sie den Fehler, den sie verschuldet hat und bleibt schliesslich alleine mit ihrem Kind und ihrem neuen Salon zurück. Tendai ist eine schwungvolle Erzählung gelungen, die einem sofort in ihren Bann zieht und bis zum bitteren Ende nicht mehr los lässt. Sie hat mich sehr angerührt!

Peter Thommen, Buchhändler (61)

P.S. Mauthausen? Ach das war doch in der Zeit des Nationalsozialismus. Was geht uns das heute noch an? Lies die Geschichte mit Dumisani!

Tendai Huchu: Der Friseur von Harare, Peter Hammer Verlag 2011 (2010 Weaver Press, Harare), 300 S. ca. CHF 24.-

Aus einem email des Autors: „Brother Peter!! As your service comes to an end (61 is rather premature I say!) others will pick up the rainbow flag. I am glad you have enjoyed the book though causing tears was never my intention 🙂 Dumisani exists, there are hundreds of him in the shadows Peter, but if anything time is on the side of progress and tolerance. Perhaps in your retirement you shall visit Zimbabwe, there is GALZ the gay organisation... Trust me there is more work for you to do apart from reading books and getting fat! Thank you for your support and if I can be of any assistance please do let me know. Tendai

Besprechung von Klaus Jetz auf  lsvd.de

Besprechung in der FAZ vom 27.2.12 (PDF 0,9 MB)

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Gelegenheit macht Liebe – und schwul?

Zwei Buchbesprechungen von Geschichten, die ich einer spezifisch weiblichen Sichtweise zuordne. Auch wenn die Schreiber schwule Männer sind!   Marty Tolstoy und Manuel Sandrino

Ein junger Mann schlägt sich mit Zeitarbeit und mit seiner Wohnpartnerin herum. Die beiden sind zwar kein Paar, könnten aber auch Geschwister sein. Diese beste Freundin versucht auch, den träumenden Jan fürs Zusammenleben tauglich zu machen, was ihr aber nicht so gelingen will.

Anlässlich eines Abendspaziergangs in die Schwulenkneipe – in einem vorstädtischen Ort – trifft Jan auf einen schönen Prinzen, der alle die Sehnsüchte in ihm weckt, die bisher wohl unbewusst in ihm geschlummert haben. Nach einem romantischen Tête-à-Tête-Tanz zu einem schmusigen Song verliert er ihn aber wieder aus den Augen.

Überraschend macht er bei einer Prügelei um seine Freundin wieder Bekanntschaft mit diesem Marco, der jetzt sein Leben mitbestimmt. Dieser hat ihr die Brieftasche geraubt, die er später findet und das bringt seinen Verehrer in schmerzende Gefühlszweifel und moralische Bedenken. Es wird ein coming out dieser Verliebtheit gegenüber dem Opfer – seiner besten Freundin – fällig. Der erste Band dieser Geschichte endet mit der unverhofften Begegnung als Zeuge vor Gericht und dann noch mit dem Besuch im Gefängnis.

Der zweite Band beginnt mit der ersten ernsthaften Arbeitsstelle für den Bürokaufmann, der immer noch im Haus seiner Freundin lebt. Nach der Vorstellung beim Chef steigt in ihm die beängstigende Ahnung hoch, dass der ehemalige Märchenprinz aus dem Knast ihn bei sich in der Firma angestellt hat. Und er muss sich gegenüber seinen Mitarbeiterinnen und der männlichen Konkurrenz bewähren. Durch eine mustergültige Präsentation erhält er Zutritt zum Marketing der Firma und stösst auch hier wieder auf unmoralisches Verhalten seines verehrten Marco, für den er alles tun würde…

Beim Lesen dieser Geschichte beschlich mich selber auch eine beklemmende Ahnung! Nämlich, dass das ganze von einem weiblichen Gehirn ausgedacht worden ist. Der junge Jan scheint nur unter weiblichen Fittichen zu leben und wird nur durch Zufall auf die ganze Welt draussen aufmerksam. Normalerweise bringen Jungs in dem Alter schon ein ganzes Beziehungsnetz daher, egal ob Heteros oder Schwule. Und sie haben bereits sexuelle Erfahrungen, die Jan völlig zu fehlen scheinen! Es geht vor allem um Liebe, Schmusen und Gefühle in diesen Geschichten. Es scheint mir eine Welt der Mädchen und Frauen zu sein, in der auch ein Schwuler wie ein Mädchen ganz jungfräulich sich in den „Richtigen fürs Leben“ verknallt und dafür noch von einem bösen Schicksal geplagt wird. Ein richtiges Märchen also, das nur durch Zufall hinter den Türen eines alten Kastens auf dem Dachboden gefunden wird. Peter Thommen_61

Marty Tolstoy: Gelegenheit macht Liebe/Diebe, Band 1, Shaker Media 2010, 240 S. und Band 2, 274 S. Eigenverlag o.J. beide ca. 14 €uro

 

P.S. Ich habe die Bücher einer erfahrenen Frau (Fussballfan, Fasnachtsclique)  zum Lesen gegeben und auch sie konnte sich des Eindrucks einer weiblichen Autorinnenschaft nicht erwehren. Auch wenn der Autor in Wirklichkeit ein Mann ist, ändert das nichts an meinem Eindruck! Weitere Details offenbart die hp des Autors!

Ich habe schon vor einiger Zeit das Buch von Manuel Sandrino: Selbstverständlich schwul (eine fantasierte Geschichte um eine schwule Schule in den USA) schon in der Mitte aus der Hand legen müssen, weil sich die Geschichten für mich um einen Mann drehten, der eigentlich eine Frau spielt unter Männern, wenn auch schwulen. Das mag interessant für die Genderforschung, aber nicht für die Biografie eines jungen Schwulen sein. Wem es gefällt, sei diese Art von Unterhaltung durchaus empfohlen.

Selbstverständlich schwul

Timmy ist ein verklemmter, schwuler 20-jährigerer. Entschlossen seine Hemmungen in den Griff zu kriegen, besucht der Schweizer für sechs Wochen eine Schule in San Francisco, die mit Selbstverständlich schwul! wirbt.

An der Schule und im San Francisco Mitte der 80er- Jahre entdeckt Timmy nicht nur das Geheimnis der Erotik, sondern vor allem einen ganz neuen Sinn im Leben. Nicht nur in der Theaterklasse, sondern auch in Mythologie schlüpft er in immer neue Rollen.

Immer neue Herausforderungen treiben ihn vorwärts: erst seine Hemmungen, dann seine tiefsten Ängste zu überwinden. Dabei gewinnt er nicht nur Freunde. Oft erstarrt Timmy in Angst bei dem, was alles auf ihn zukommt, stolpert aber trotzdem stetig vorwärts in immer verrücktere Gelegenheiten zu wachsen, sich zu blamieren und Antworten auf seine drei alles motivierenden Fragen zu finden: Was bin ich? Wer bin ich? Warum bin ich so, wie ich bin?

Der Süden Kaliforniens bietet so viel Neues und Aufregendes: als Statist in einem Film mitzumachen, eine spontane Show am Muscle Beach in Venice und als sich Timmy für eine Massage als Model zur Verfügung stellt, wird er unfreiwillig Lehrobjekt bei einem Tantra-Seminar. Aber vor allem Mythologie und Museumsbesuche eröffnen Timmy eine neue Welt, die immer mehr sein Denken und Fühlen beeinflusst. Erotik öffnet ihm neue Türen. (aus den Verlagsinfos)

„Das Buch ist voller Erotik und Fantasie. Jedes einzelne seiner Erlebnisse lehrt Timmy etwas Wichtiges. Timmy ist jemand, der nicht einfach glaubt, sondern durch hinterfragen, ausprobieren, beobachten und zuhören lernt. Er stürzt sich in die Abenteuer, auch wenn eer oft vor Angst fast erstarrt.“

„Was ist Erotik anderes als, als seine Fantasie kreativ zu nutzen?“

„Erstaunlicherweise erhalte ich speziell von Frauen, Müttern und Schwestern Feedbacks, wie das Buch ihnen neue Türen zur oft verschlossenen männlichen Psyche eröffnet.“

„Wie gehen schwule Männer miteinander um? Vieles ist bewusst zwischen den Zeilen belassen, oder nicht beschrieben.“

„Ein spannender Roman über einen kleinen Teil einer von vielen Männerwelten.“ (Worte des Autors)

Ich habe das Buch bis zur Hälfte gelesen. Dann ist mir klar geworden, dass dieser Timmy kein Schwuler ist. Ich war immer wieder irritiert über gewisse Ereignisverläufe, Gedanken und Rollenspiele. Halb zog es ihn, halb fiel er hin…

Das Buch ist eine Fantasie und Timmy spielt eigentlich die Frauenrolle in einer homosexuellen Welt, es könnte geradesogut von der besten Freundin eines Schwulen geschrieben worden sein. Wems gefällt, dem sei’s empfohlen!  Peter Thommen_60, Schwulenaktivist (publ. auf gaybasel.ch)

Manuel Sandrino: Selbstverständlich schwul, (PDF) Himmelstürmer 2008, 370 S. CHF ca. 26.-

Ein weiteres Jugendbuch mit ziemlicher „Mädchenperspektive“ ist

Edvard van de Vendels: Die Tage der Bluegrass-Liebe, Carlsen 2009  (Bd.1) 

Die langen Nächte der Stille, Carlsen 2009, 390 S. ca CHF 21.-  (Bd.2)

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der junge auf der heissen sohle

Hitze ist fast immer Ausdruck von Körperlichkeit und Sexualität. Dieser Roman wird geprägt von Sonnenhitze, Wut und Branntwein… obwohl die Sexualität eigentlich „abwesend“ ist. (In der Zeit der Prohibition in den USA – 1919-33)

Die Geschichte ist so heterosexuell wie irgend möglich. Aber die Hitze schlägt auf den jungen Mann ein wie Blitze, oder hält ihn in Leidenschaften gefangen. Daneben wirken seine sexuellen Kontakte mit Mädchen oder jungen Frauen schal und warm. Das männliche Feuer brennt IN ihm und das macht die Geschichte wiederum zu einer Auseinander-Setzung, die nach Einheit mit dem eigenen Geschlecht sucht. Wozu denn in die (weibliche) Ferne schweifen, wo doch das Gut(e) so nahe liegt?

„Dog Star“ von David Windham ist kein schwuler Roman. Und doch geht es um Männer und ihre Rolle, gegenüber der Mutter, den Geschwistern, „den Frauen“ und den anderen Männern in einer Kleinstadt der USA. Da wo alles seine Ordnung und seine Gewohnheiten hat. Blackie ist einer Besserungsanstalt entflohen, in welcher er einen nahen Freund durch dessen Selbstmord verlor. Er kehrt zurück in sein Nest, das nicht mehr sein Zuhause sein kann. Weder im Sex mit einem Mädchen, noch in Arbeit oder Nichtstun, kann er einen Sinn des Lebens finden. In dieser Enge verformt sich Männlichkeit zu Heldentum oder Tod. Sehr schön sind diese Elemente in ihrer Wirkung beschrieben, in einer Sprache, die einem das alles sehen, riechen und schmecken lässt!

„Seit er sich erinnern konnte, hatte er in Garagen und unter Häusern mit kleinen Mädchen gespielt. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass Liebe damit zusammenhing. Er war erfreut und überrascht.

„Nachts im Park war er mit ihnen – sein Glück überall versuchend – so weit gegangen, wie er (jetzt) mit Mabel gegangen war. Es war ein Abenteuer, aber es war das Gegenteil von dem, was er unter Liebe verstand. Liebe war etwas Grosses und Starkes, ohne jede Verbindung zu Handlungen, die vertraut waren und sichtbar, und einen Namen hatten. Liebe war ein Entkommen aus dem Alltag, nicht ein Teil davon.“

Er betrachtete Mabel, als hätte er sie nie zuvor gesehen, und liess seine Hände an ihrem zarten, festen Körper hinab gleiten, bevor er antwortete. Er glaubte es nicht wirklich, und doch machte es ihn unglaublich glücklich, Liebe auf das zu reduzieren, was da vor ihm stand, um angeschaut und von seinen Händen angefasst zu werden.

Ich liebe dich auch“, sagte er.“

Natürlich hatte er sowas nie zu einem Jungen gesagt. So treibt er sich also in der Stadt, unter den Jungs, den Ganoven und der Familie herum, die Stärke von Whitey suchend, die er durch dessen Selbstmord verloren und die er offenbar in einem Vater nie hatte. Sich auf Spiele einlassend, die ihm Ansehen, Respekt oder gar Geld bringen sollen.

Blackie durchlebt das, was Schwule nie erleben wollen und zieht trotzdem am Ende die Konsequenz da, wo Schwule erst mühsam anfangen müssen, mit „heterolike“ und „straight-acting“. ..

Ein Buch also, aus schon historischen Zeiten, aber mit der Macht des Heterrors, der Jungs bis heute bis in den Tod treiben kann.  

Peter Thommen (61)

Donald Windham: Dog Star *, Lilienfeld Verlag 2010, 220 S.  CHF ca. 26.–

* vom Hundsstern am Himmel hergeleitet

Das Buch ist auch im gay-mega-store Basel zu haben.

Eine Besprechung von Zwei Menschen folgt!

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Einen Regenbogen im Brillengestell

Das hat nicht jeder. Für Patrick Bowien (30) aber ist das auf dem Titelbild das richtige Symbol für seine Identität als Schwuler. Die an die 60er Jahre erinnernde Frisur lässt zuerst auf einen Mädchenkopf tippen. Aber so ist das mit der Identitätsfindung in der männlichen Homosexualität: Keiner will „so sein“ wie „der Andere“, aber trotzdem müssen wir zueinander finden. Für ihn ist das „gaynau richtig“.

Da hat sich einer daran gemacht, die Geschichte, die Umstände, und selbst HIV aufzuarbeiten und zu sich selbst zu finden. Der Weg ist doch das Ziel! Daneben schrieb mir kürzlich ein 22jähriger Bisexueller, er wisse doch schon alles und brauche keine Bücher zu lesen. Kein Weg führt auch zu keinem Ziel…

Ich war etwas überrascht über Bowiens vertiefte Arbeit, die er in einem Buch veröffentlichte. Etwas überrascht war ich auch, dass der 22jährige Junge befand, er wisse doch schon alles. Zwischen den beiden liegen nur rund 10 Jahre.

„Dieses Buch zu schreiben war eine persönliche Herausforderung. Neben Stress und Verzweiflung brachte es mir jedoch auch Lernen über die Identitätsfindung in der Homosexualität und über das professionelle zielgerichtete Schreiben eines Buches.“ (Vorwort)

Doch dies scheuen die meisten Jungs. Sie möchten ihre sexuelle Orientierung möglichst lange in der Schwebe behalten und sie schliesslich einem Schicksal anheim stellen, das sie dann nicht zu verantworten haben. Nach dem Motto: Etwas bi schadet nie…

Bowiens Arbeit ist eine ausführliche Zusammenstellung der Fakten, wie sie viele schwule Jungs und Männer immer wieder für „Selbstvertiefungsarbeiten“, Semesterarbeiten, oder Schulvorträge zum Zweck ihres coming outs in Ausbildungsinstitutionen erarbeiten. Ein Crashkurs durch Geschichte, Kultur und Politik und wie diese die Homosexualität einordnen. Auf die einschneidende persönliche und politische Rolle von HIV-AIDS geht er in einem ausführlichen Kapitel ein.

Darauf aufbauend beginnt ungefähr in der Mitte des Buches der Text über die Selbstfindung. „Die vorangegangenen Kapitel bildeten die Basis, auf der der homosexuelle Mensch sozialisiert wird. Diese Basis bestimmt das Fremd- und Selbstbild und beeinflusst den Prozess der Identitätsfindung wesentlich.“ (S. 61)

Er beruft sich auf wichtige Autoren der letzten Jahre und Jahrzehnte und zitiert ausführlich aus Büchern von Rauchfleisch, Hofsäss und vor allem Wiesendanger. Sein Studium der Sozialpädagogik gibt ihm auch die Knackpunkte fürs frühe jugendliche coming out vor. Diese werden weitgehend von den pädagogischen Institutionen übersehen. Bowien macht klar, dass viele Jugendliche bis ins Erwachsenenalter hinein der besonderen Beratung bedürfen, um nicht in pubertärer Opposition und an den gnadenlosen Regeln von Heterror und kommerzieller Szene zu scheitern. Er gibt auch handfeste Tipps für Beratungen und heterosexuelle Therapeuten. Aus der Sicht emanzipatorischer Sozialpädagogik ist es besonders wichtig, „nicht auf die Integration von homosexuellen Menschen in die heterosexuelle Gesellschaft hinzuarbeiten, sondern die Autonomie der Homosexuellen zu stärken. Auf diese Weise wäre ein homosexuelles Leben in psychischer Gesundheit in einer Gesellschaft wie sie heute besteht, leichter zu realisieren.“ (S. 87)

Drei personenzentrierte Interviews (nach Rogers) schliessen das Buch ab. Mit homosexuellen Männern der Jahrgänge 1928, 1958 und 1987, die er ausführlich kommentiert.

Bowiens Buch hat mir einmal mehr vor Augen geführt, dass es noch immer einer intellektuellen Anstrengung bedarf, um – jenseits der Nachahmung heterosexueller Normen – ein persönlich eigenständiges und selbstverantwortetes Leben in und mit der Homosexualität zu führen. Diese Anstrengung ist lebenslang gefordert! Die erleichterte „Einbürgerung“ mittels gesetzlicher Lebenspartnerschaften kann dies niemals ersetzen!

Peter Thommen, Schwulenaktivist (61)

Patrick Bowien: Gaynau richtig! Identitätsfindung in der männlichen Homosexualität, Tectum 2011, 120 S., CHF ca. 27.- (€ 19.90)

(Das Buch ist in Basel auch bei gay-mega-store erhältlich)

Siehe auch die Bücher von Wiesendanger: Vertieftes coming out, sowie Das Kind im schwulen Mann

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