Loetscher: war meine zeit meine zeit

Hugo Loetscher (1929-2009) ist ein schweizer Schriftsteller der Vorkriegsgenerationen. Er hätte mein Vater sein können. Er begann in den sechziger Jahren zu publizieren und bereiste später die halbe Welt, um zu entdecken, dass es jenseits des zürcher Sihlflusses noch andere Ufer gab. Vom „anderen Ufer“ berichtete er in seinem Roman „Der Immune“ (1975). Ich erfuhr sehr viel später davon, denn Loetscher war gar nicht als „homosexueller“ Schriftsteller bekannt.

„getabstract.com“ bietet eine Zusammenfassung dieses Romans, worin Loetscher erstmals von der Weltläufigkeit seines Denkens und Lebens erzählt. „In seinem quasi autobiografischen Hauptwerk blickt der Zürcher Autor und Kosmopolit Hugo Loetscher auf sein Leben als Journalist zurück. Der Immune, die Hauptfigur des Romans, leidet an seiner Überempfindlichkeit und versucht sich abzuhärten, indem er sich allen möglichen Situationen, auch den unangenehmsten, schonungslos aussetzt.“

Das kommt mir irgendwie bekannt vor! Viele Homosexuelle versuchen, sich abzuhärten, mittels zusätzlicher Leistungen, die sie erbringen, grösserer Krativität – aber auch grösserer Destruktivität und Dekonstruktivität ihrer eigenen Persönlichkeit. Vor allem wenn ich an die letzten Jungautoren denke, deren Leben ohne Drogen und HIV nicht zu beschreiben wäre.

„Der Waschküchenschlüssel“ (1973) blickt eindringlich auf Schweizerische Eigenheiten und wie ein Junggeselle in dieser Waschküchenordnung ein heilloses Durcheinander erzielt.

Loetschers letztes Buch erschien einige Tage nach seinem Tod. Anlass genug für mich, in seinen Lebenserinnerungen zu lesen. Ich erwartete nichts „schwules“ von ihm. Lediglich einige Skurrilitäten eines Junggesellenlebens eben. Eines bürgerlich-anerkannten Philosophen, Journalisten, Kulturkritiker und Schriftstellers. Ich las das Buch mit Unterbrüchen über ein halbes Jahr. Das Leben ist kein Trip, kein Orgasmus und auch kein Paradies. Es hat seine Langweiligkeiten und Längen, wie dieses Buch auch. Aber es überraschte mit einigen Rosinen und Erdbeeren, für die es sich für mich gelohnt hat, Zeit mit ihm zu verbringen.

Damit in der Hektik des „heterosexuellen Literaturbetriebes“ die rosa Gedanken Loetschers aus diesem Buch nicht verloren gehen mögen, zitiere ich sie für Euch!

 

„Da dringt das Sonnenlicht in den Regentropfen ein und bricht; an der Innenwand des Tropfens wird ein Teil des Lichtes reflektiert; unter nochmaliger Brechung tritt das Licht aus dem Tropfen, und das weisse Licht wird in seine Farbkomponenten zerlegt.

Ob auch ein Mensch erst Farbe bekennt, wenn er mehrfach gebrochen wird?

Doch dann sah ich die Regenbogenfarben nicht an einem Himmel, an dem sie erlöschen, sondern auf einer Flagge. Die weht von Balkonen, Strassenlaternen, Brückengeländern, Haltestellen, wurde als Kopftuch und Umgang getragen – es war die Fahne der Homosexuellen, welche mit ihr ein öffentliches Bekenntnis ablegten, stolz der Tag, stolz die Woche, stolz die Parade. Die Farbpalette stand dafür, dass unterschiedliche Menschen sich zusammenfinden: die Roten, die Orangen, die Gelben, die Blauen, die Grünen und auch diejenigen, die lila sind.“ (S. 33-34)

(Über die Homoszene in Zürich nach dem Krieg) „Ein Programm anderer Art bot das einzige schwule Nachtlokal. Da schlenderte nicht nur ich an der Türe vorbei, noch eine Kehrtwendung, sich vergewissernd, wer herumstand, bevor man eintrat. Es wurde geflüstert: die, die solche Lokale aufsuchen, werden von der Polizei registriert. Drinnen vernahm man Genaueres. Verschärfte Kontrolle der Pissoirs. In Paris soll verboten werden, dass Männer miteinander tanzen. Die Amerikaner glauben nicht an den Kinsey-Report, so viel Prozent können es nicht sein, die derartige Erfahrungen eingestehen. An der Wand die Reproduktion von Ganymed, entführt vom Adler, und im Himmel erwartungsvoll Zeus, für „Menschen unserer Art“, Gruppenbilder von Heiligabend im Klublokal, „damit im Schein der Kerzen Weihnachten nicht ein Fest der Einsamen ist“. Einer überredet den Typen neben ihm, den Arm auf seiner Schulter: „Auch Shakespeare war so und erst Michalangelo“. Worauf einer aus einer dunklen Ecke kommentiert: „Schwul ist nicht abendfüllend. Vielleicht reicht’s für eine Nacht. Es ist nicht alles schwul, was glänzt.“ Ein rauchgeschwängertes Gedränge, so dass sich nicht nur von Barstuhl zu Barstuhl Schenkel an Schenkel presst.“ (S. 65)

„Was aber, wenn das Ufer, von dem ich komme, nicht das jenseitige Ufer der Sihl ist, wenn es eine andere Art Ufer ist, eines, das jenseits der gängigen Moralität liegt – was, wenn ich nicht liebe, wie diese die Majorität tut.

Ich war zu unzähligen Ufern unterwegs, die anders sind. Dabei hat mich gelegentlich der Reiseführer begleitet, der Auskunft gab: In welchem Land steht auf Homosexualität die Todesstrafe, und in welchem kann man „wegen Zuwiderhandlung gegen den Anstand“ zu Zwangsarbeit verurteilt werden. Wo wurde die Gesetzgebung liberalisiert und wo ist Diskriminierung strafbar – ja, und wie hoch ist das Schutzalter, nicht unwichtig, ob dabei Geld mit im Spiel ist.

Einschlägige Tipps für diesen Ort oder jene Stadt, nicht nur für Hotels oder guesthouses. Adressen von Bars und Clubs, in denen sich eher Ältere und Bärtige treffen, wo Studenten und Pornostars zusammenkommen, oder wo Stricher ihre Dienste offerieren. Aufgelistet, was empfohlen wird an Diskothek und Darkroom, was den Lederfetischisten oder den Liebhaber von gogo boys erwartet. Ob Strip oder Tabledance. Was an Dresscode respektiert werden muss: Leder, blue jeans oder military look. Hat das Kino eine Grossleinwand, oder nur Kabinen? Welche Sauna wartet mit „bösen Buben“ auf, die Sado bieten, oder massieren einfach Männer Männer, und werden mit der Eintrittskarte auch Kondome abgegeben? Hinweise auf Spezialevents wie Transvestiten-Show oder Unterwäsche-Partys. Welcher escort service ist europa- und weltweit zu empfehlen, und weshalb gilt diese Bahnhofs- oder jene Parkbekanntschaft nach Eindunkeln als gefährlich? Und natürlich die Nummer für das Überfalltelefon oder die Aidshilfe.

Wo aber war ich nicht überall dabei, ohne anwesend zu sein. Zum Beispiel als einer, weil er einem Mann beigewohnt hatte, rücklings von einem Felsen gestürzt wurde, worauf einer im Namen Jahwes den ersten Stein warf und ein zweiter den zweiten, bis die ganze Gemeinde steinigte.

Stand ich nicht oben an einer andern Grube. Beide, in flagranti ertappt, waren eingegraben bis zur Hüfte. Am lautesten johlte der neben mir, als er, Allah ist gross, mit seinem Wurf den Kopf des einen traf; er hielt den nächsten Stein zur Kontrolle hin, der durfte nicht grösser als seine Hand sein. Das war vorgeschrieben, um den Tod hinauszuzögern.

Und was für ein Auflauf an Schaulustigen, als ein Sodomit vom Gerichtsdiener aufs Rad geflochten und auf den brennenden Holzstoss geschoben wurde. Der Schrei des Verurteilten ging unter in der Litanei, die die Gerechtigkeit der Heiligen pries: ein christliches ora pro nobis.

Hätte ich nicht auch angestanden, um den amerikanischen Ex-Kombattanten im Gefängnis zu besuchen, auch wenn nur ein kurzes Gespräch durch eine Trennscheibe hindurch toleriert worden wäre? Hinter dem Glas der Sergeant, der vor seinen Richtern bekannte: „Ich habe im Vietnamkrieg einen Mann getötet und wurde dafür ausgezeichnet, ich habe in den USA einen Mann geküsst, dafür kam ich ins Gefängnis.“

Haben Eier und Tomaten nicht auch mich getroffen, obwohl ich nicht mitmarschierte bei den Pride-Paraden – ob in Moskau oder Bukarest, oder sonst wo. Auch mir haben sie ein Transparent entrissen. Auch auf mich, der ich vor dem Bildschirm sass, haben bekennende Patrioten und militante Christen eingeschlagen, für einmal war ich froh um die Wasserspeier der Polizei.

Zu einem Drink aber habe ich live eingeladen (frag auch den Jungen in der Ecke, was er mag, den mit den zerschlissenen Jeans und der Schirmmütze im Gesicht). Im Stonewall an der Christopher Street im New Yorker Greenwich Village. Hier, in diesem Szenetreff, trank ich auf die gays, die eines Nachts die Polizei nicht mehr hinnahmen. Die Polizisten verhafteten schon wegen eines Kusses oder wegen Händchenhaltens und nahmen sic mit höhnender Vorliebe Transvestiten vor. Die Gays schlugen zurück, nicht mehr nur Schwarze und Hispanics. Ein paar tausend gegen ein paar hundert Polizisten. Flaschen und Steine gegen Gummigeschosse und Knüppel. Nicht bloss Handgemenge, sondern Tumult und Aufruhr. Drei Tage Rebellion – gay power.

Das war etwas anderes als die Razzien im Nachkriegs-Zürich mit seinem Schwulenregister. Wegen der Homosexuellen würden sich Geschlechtskrankheiten ausbreiten. Daher Verhaftungen und Zwangsuntersuchungen. Ein lokales Kapitel der Brunnenvergiftung, das sich wiederholte, als Aids als Schwulenepidemie diffamiert wurde. Bis die Immunschwäche international auf die Hetero-Agenda kam und afrikanische Heime sich mit Aids-Waisen füllten.“ (S. 188-190, Auszug aus einem vieles übergreifenden Homo-Thema-Kapitel, bis S. 208)

„Das Café Pierre Loti gibt es noch. Nur dass jetzt eine Schwebebahn zur Eyüp-Sultan-Moschee hinunterführt. Damals stieg ich zu Fuss den Hügel hina, strekcenweise auf einem Trampelpfad, durch den Friedhof, der sich den Hang entlangzieht. Unter alten Zypressen blumenlose Gräber, manche mit hohem Gras überwachsen. Mit Blüten und Muscheln verziert die Grabplatten der Frauen, die Stelen der Männer mit einem Turbanmotiv gekrönt, der schiefe Turban ein Zeichen, dass der Tote geköpft worden war. Ich versuchte, einem Alten auszuweichen, der sich mir in den Weg stellte. Ein struppiges Gesicht, der Mund fast zahnlos, als Gürtel eine Schnur, die Hose ausgefranst, barfuss, das eine Bein nachschleppend. Schliesslich folge ich ihm in seine Behausung, eine Unterschlupfhöhle mit einer Grabplatte als Dach. Die Matratze zerschlissen, ein paar Kerzenstummel, auf dem Boden ein angeschlagenes Emailbecken. Er hinkte in eine Ecke und holte hinter abgegessenen Melonenschalen etwas hervor, streckte es mir hin: „Ich war damals ein Junge. Von Pierre. Von Loti.“ Ein Roman des französischen Schriftstellers, der in jenem Café viel geschrieben hat und sich gern mit Jungen umgab. Das Buch in rotes Leder gebunden, mit Goldschnitt. Der Mann, der mir zum Abschied die offene Hand hinhielt, bettelte nicht, er verkaufte eine Erinnerung.“ (S. 172-173)

 

Ist es nicht faszinierend, wie ein Schriftsteller seine Erinnerungen weitergibt? Wie er wiederum sich an die Erinnerungen Anderer erinnert? Wie ein ganz normaler bürgerlicher Schriftsteller sich an Geschichte und Subkultur anheftet, sich mit ihr identifiziert und auch ein Teil von ihr ist, wiewohl er zu den Tatzeiten abwesend war? Und über welche Symbole er sich mit Anderen verbunden fühlt.  Peter Thommen (61)

Hugo Loetscher. War meine zeit meine zeit, 410 S. Diogenes 2009, € 21.90, ca. CHF 36.-

Loetscher, War meine Zeit meine Zeit, diog

Roman Bucheli: Ein letzte, lange Liebeserklärung, NZZ 2009

 

Pierre Loti (1850-1923), französischer Schriftsteller, erwähnt von Hugo Loetscher

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Innenansichten eines gay Teenagers

Schon am Anfang dieses Buches, das in London und Umgebung handelt, musste ich mehrmals laut lachen und öfters schmunzeln über die Schreibe von Will Davis. Und mit seiner brutal-ehrlichen und schräg-sarkastischen Erzählweise zog der heute 30jährige Autor mich in seinen Bann und in sein Leben hinein. Mich beeindruckte einfach der Titel: „Meine Sicht der Dinge“, denn da ist einer nicht zu feige, Stellung zu beziehen!

Davis wurde 1980 geboren und wuchs in den Herrschaftsjahren von Margareth Thatcher auf, deren Regierung bekanntlich jegliche staatliche Hilfe für Homosexuelle verboten hatte. (Clause 28)

Sein Leben spielte sich im Haus seiner spröden Familie, sowie in der Schule ab. Seine beste Freundin ist eine Mitschülerin, seine Schwester ist gläubig und auf der Schule hat es Nazis, die mit Messern herumfuchteln

„Es ist aber nicht so, dass in meiner Story sehr viele aufregende Sachen passieren werden; ich will ja nicht lügen. Und das war auch schon der Hinweis. Ich wollte eigentlich noch irgendwas faseln, dass ich mich nicht als total toller Erzähler aufspielen will, der die Leute für sich gewinnen möchte, aber das wäre bloss Zeitverschwendung. Und wenn ihr deshalb jetzt nicht weiterlesen wollt, dann ist mir das scheissegal.“ (S. 7)

Es gibt eine Menge Streitereien in dieser Familie und an der Schule, die er gerne mit Aussprüchen wie: „Bring es doch bitte hinter uns!“ kommentiert. Was nicht heisst, dass er nicht auch mal den jungen Baum über dem Katzengrab seiner Schwester zertrampeln kann, oder dem Erdkundelehrer eine haut, weil er ihn aus der Schwulendisco hinauskomplimentiert hat.

Jarold, oder besser Jaz – wie er genannt wird – ist aus seinem Leben heraus so frech, wie das Leben oder die Leute auch zu ihm sind.

„Ich weiss nicht, was mit mir los ist, aber ich verspüre oft den Drang zu lächeln, wenn jemand versucht, mir gegenüber ernst zu sein. Dieser Jemand ist in der Regel Mum, also ist das nicht so schlimm, aber ein-, zweimal ist es mir bei Lehrern passiert, und das hat mir eine Menge Aerger eingebracht. Ich fühle, wie es jetzt in mein Gesicht kriecht, wie ein Wurm.“ (S. 15)

Gerade ist sie in sein Zimmer geplatzt, für das er keinen Schlüssel hat, aber manchmal einen Schaft vor die Türe schiebt.

„Ich weiss, es ist hart für dich, Jaz, sagt sie. Ich denke an meinen harten Schwanz und daran, wie recht sie hat. Warum kann sie nicht einfach gehen? Aber stattdessen hört sie nicht auf, zu beteuern, wie sehr sie mich liebt, aber ich wäre so verschlossen, und sie wüsste, wie schwierig das alles sei, aber manchmal habe sie keine Ahnung, was in mich gefahren wäre und ich solle mich doch ein bisschen mehr öffnen. Die Frau macht eine Anspielung nach der anderen. Ich versuche krampfhaft, zu nicken und mein Kichern in ein Räuspern zu verwandeln, aber auf einmal sagt sie: Ich will meinen kleinen Jungen Jarold zurückhaben, und das in einer so sentimentalen Stimme, dass ich mich nicht mehr beherrschen kann. Ich: Komm drüber hinweg, und dann sagt sie mir, ich wäre herzlos, aber wenigstens kommt die Botschaft bei ihr an und sie verschwindet. Natürlich ist mein Ständer mittlerweile auch verschwunden.“ (S. 16)

Nun schickt er seiner besten Freundin eine SMS: OGOTT ELTRN HABEN GRAD RAUSGEF, DASS I SCHWUL BIN VOLL SCH, MORGN MHR!

Am anderen Morgen nimmt sein verhängnisvolles schwules Leben seinen Lauf, weil diese im Bus nicht ihren Mund halten kann und vor Aufregung plappert…  Schnell erreicht dieses Wort die Schule und macht die Runde. Das gibt Schwierigkeiten mit Arschgesicht und Bulldogge.

„Fabian lässt seinen Blick zwischen uns schweifen und kichert wie eine alte Hexe. Er sagt (zu ihr): Pass nur auf Schlitzi, sonst steche ich dir und deinem kleinen Schwuchtelfreund die Augen aus.

An dieser Stelle fühle ich mich dazu aufgefordert, auch einen Gesprächsbeitrag zu leisten: Geh doch bitte eine Kettensäge ficken, ja?

Fabian schenkt uns diesen comicartigen Bösen Blick, den er wahrscheinlich daheim vorm Spiegel übt, und zeigt dann sein Zungenpiercing.“ (S. 18)

Davis kann sehr genau beschreiben und streut seine neunmalklugen oder altklugen Gedanken in seine Texte hinein, so dass wir uns gleich in ihm drin fühlen. Wir erfahren all das, was Teenager nie gefragt werden, oder auch nicht freiwillig erzählen würden. Er schenkt uns einen Text, der frei ist von Sexualzensur, aber dennoch moralisch gefärbt. Einer Moral, die sich aus den Erfahrungen ergibt, die er noch und noch macht.

Manchmal spult er sein Leben einfach etwas vor, weil er unbedingt etwas erklären muss. Manchmal blendet er zurück und erinnert sich an Vergessenes. Er will aus seinen Kinderhosen hinaus und Mum und Dad wollen ihr Kind „so behalten“. Das klassische Drama einer bürgerlichen Familie halt, die das wohl nie begreifen werden.

Jaz und Al – so heisst seine beste Freundin – besuchen also die gay disco in Brighton, und Jarold begegnet da auch „seinem Typen“, bei dem er zu landen versucht und erst beim zweiten Anlauf an die Mobile-Nummer und Adresse herankommt. Al schiebt ihm später auch eine „E“ in den Mund und Jaz fliegt ganz schön auf die Droge, während deren Wirkung er sich später von dessen älterem Wohnpartner zum erstenmal und – blutig – ficken lässt.

Witzig sind die Szenen beim Psychiater, zu dem er seine Eltern begleiten soll. Jedenfalls schafft seine Mutter einen Turm „Selbsthilfebücher“ an und am Schluss hat dieser Fachmann noch ein Verhältnis mit Jaz’ Erdkundelehrer.

Es wird dem Leser also selten langweilig, gibt viel zu lachen und über Jarolds Gedanken auch nach-zu-denken. Er spielt nirgendwo die „armes-Opfer“-Rolle, auch wenn er immer mal wieder „sehr tief fällt – tiefer geht’s nimmer“ – er nimmt die Herausforderungen an.

Ich denke, der englische Text hat offenbar eine sehr gute Übersetzung bekommen, die sich nicht nur auf ein „hey krass, Alter!“ beschränkt.

Ich hoffe Ihr habt auch so viel Vergnügen an einem Jugendbuch, das übrigens auch von „heteromässig“ daherkommenden Jungs gelesen werden kann (Zunge-raus-streck!)  Peter Thommen, Buchhändler

Nun meine Kollegen aus Wien:

„Will Davis lässt Jaz ein ziemlich konventionelles Leben führen und seine Ausbruchsversuche und Ansprüche an Eigenständigkeit zielen darauf, in Ruhe gelassen zu werden und den Massstäben der eigenen Normalität genügen zu können… Jaz ist etwas Besonderes, gerade weil er sich solchen vergleichenden und damit von aussen an ihn herangetragenen Massstäben gar nicht stellt. Seine Besonderheit liegt gerade in seiner Normalität, ein vermeintliches Paradoxon, dass der Roman erzählerisch wie sprachlich überzeugend vorführt – fesselnd, weil Jaz‘ einerseits aus der Ich-Perspektive erzählt – aber es eben nicht „seine Geschichte“ ist, sondern „seine Sicht der Dinge“. (Aus dem Text von Veit G. Schmidt, Löwenherz, Wien)

Will Davis: Meine Sicht der Dinge, Roman, Bloomsbury 2007, Bruno Gmünder, 2010 , 235 S.  ca. CHF 24.-

In Basel erhältlich bei ARCADOS und gay-mega-store, aber wohl nicht in jedem Buchladen – grins!

Hier einige Links über den Autor:  seine Homepage

Wie das Buch den Weg in die Oeffentlichkeit fand

Reviews: greatgayreads, media-culture

Davis’ zweites Buch Dream Machine

Wie er mir per email geantwortet hat, schreibt er bereits am dritten Buch!

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Ech ha di gärn

Gedicht eines Schülers

Wie mängisch flemmereds öbere Bildschirm? Ech ha di gärn.

I wie mängem Buech esch es drockt? Ech ha di gärn.

Doch wie schwär esch es för mech doch? Ech ha di gärn.

Ech ha der das scho mängisch wölle säge: Ech ha di gärn.

Wie mängisch han ech mech ufgregt dröber: Ech ha di gärn.

Wie mänge het s scho för si Profit gnötzt: Ech ha di gärn.

Doch ech wet ders etz ou säge: Ech ha di gärn.

Wie mängisch han ech Wetz dröber gmacht? Ech ha di gärn.

Wie mängisch han echs onderdröckt: Ech ha di gärn.

Wie mängisch esch es onderdröckt worde? Ech ha di gärn.

Wie mängisch ben ech z jong gse? Ech ha di gärn.

Doch ech muess ders etz doch säge: Ech ha di gärn. doch ech brenges ned öber d Leppe.

Ech ha di gärn. Es esch ned „rechtig“: Ech ha di gärn.

Jede Obe säg is zo dim Bild: Ech ha di gärn.

Du – du besch nämlech e Ma!

Hanspeter, 16, Schüler, Niederrickenbach, in der Zeitschrift team, 1984

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Im Labyrinth des Ichs

Der passende Titel für eine Geschichte über sexuelle Identität bei Jungs. Mittels Dialogen und Szenen, aber auch Monologen und Reflexionen, öffnet sich uns die Welt der Pausenhöfe, der Jungs im Autoritätsstress und bei der Erfahrung von Uebermacht.

Wie freundschaftliche Gefühle sich entwickeln, Verliebtheit und Hass entstehen können, das erzählt uns Charlotte Ulbrich ganz lapidar, auch einfühlend und fesselnd in ihrer Erzählung. Es geht um Jungs und Mädchen, die bereits auf „Eroberung“ aus sind. So zufällig und schräg wie im Leben, bilden sich Cliquen und isolieren sich „Einzelgänger“ und kommen einander in die Quere.

Marco, der Angepasste beschreibt die Entwicklung eines Konflikts an der Schule, der ihn in Loyalitätsprobleme stürzt. Dabei hat er es doch mit dem „Neuen“ – eher besonnenen Dennis – nur gut gemeint. Seine derzeitige Freundin ist ihm auch keine Hilfe. Aber Oruc der Türke wird für ihn wichtig, vor allem als Tätlichkeiten nicht mehr zu verhindern sind. Alles spielt sich in der Welt der Kids ab, die erst sehr spät bei Erwachsenen und bei der Polizei um Hilfe ersuchen, um eine Katastrophe abzuwenden.

Wie gewöhnlich bekommt die Schule von allem gar nichts mit. Die junge Autorin selbst zeigt uns, dass Mädchen einen grossen Einfluss auch auf das Geschehen unter Jungs haben können, wenn sie sich nicht einfach nur einspannen lassen und das „heterosexuelle Spiel“ mit ihnen spielen. Ein wichtiges Buch auch für Mädchen!  Peter Thommen60

Ulbrich, Charlotte (17). Im Labyrinth des Ich’s, Pressel Verlag 2010, 160 S. CHF 16.- (über ARCADOS)

Adrian Baumgartner: Marco ist sechzehn und wie bei jedem jungen Mann in diesem Alter spielen seine Gefühle verrückt. Nicht nur dass er sich von den Erwachsenen, und zum Teil auch durch seine Freuden und Kollegen nicht mehr verstanden füllt. Jetzt will es auch mit seiner Freundin Kim, nicht mehr so recht klappen. Und erst recht als er sich mit dem Neuen an seiner Schule anfreundet, geraten seine Gefühle aus dem Ruder.

Dieses Buch ist nicht nur sehr unterhaltend, sondern stellt die Gefühlswelt der Jugendlichen ins Rampenlicht. Der Autorin ist mit ihren siebzehn Jahren ein erstaunliches Meisterwerk geglückt, das es sich auf jeden Fall lohnt zum lesen.

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der schwule lebt nicht nur vom tag allein!

Die „Grosse“ hat die kleinen „Schwestern“ schon immer fasziniert. Die Stadt hat etwas lebensmagisches für schwule Männer vom Land. Seine grosse Schwester guckt dem Autor auch die ganze Zeit über die Schulter. Die Kindheit von Junghomos ist in einer grossen Stadt wie Zürich nicht so leicht abzuschütteln wie die Flasche für einen Geist.

Simon Froehling gibt uns mit „Lange Nächte Tag“ einen Erzähltext und einen scharfen Einblick in die Gedärme heutiger Leidenschaften zwischen jungen Männern. Die Erzählung ist verwirrend am Anfang, aber bald spielt es keine Rolle mehr, ob er vom Einen, oder aus der Sicht seines Liebhabers schreibt, oder ob er über beide nur phantasiert hat. Die Leidenschaft ist das Lebenselixier des Schwulseins und muss immer mit Reue bezahlt werden. Das Wahre, der grosse Mann fürs Leben, den wir schon als Kind erahnt haben, sowie Auftritte in Szenen – virtuell und real – um uns zu schmeicheln, oder Andere emotional abzustrafen, gehören wohl seit Oscar Wilde zu den schwulen Attitüden. Am Schluss deckt der morbide Schnee wieder alles zu und verzeiht grosszügig, wie in den Kinderbüchern auch.

Patrick und Jiri, die beiden Protagonisten werden aus ihrem Leben gerissen, indem sie sich gegenseitig ein Universum eröffnen wollen, aber nicht können. Schon den Schlüssel hingelegt, noch nicht emotional abgefahren und schon miteinander verkettet. Noch halb in den blauen Seiten und doch schon mit ihm beim Konzert von Nachbar Albert im sonnengefluteten Hinterhof.

Wer sich auf Simons Text einlässt, der wird in eine Spalte blicken, wo Sperma, Speichel und Alkohol sich mischen und Erinnerungsfetzen über den Himmel ziehen. Escher-Wyss-Platz. Die Bar mit dem gläsernen Auge. Das Grossraumbüro mit den Computern. Romantische Winkel in der Altstadt. Simon verwebt es gekonnt. Da drin werkelt das Schicksal im Auftrag Gottes – oder umgekehrt? Oder spielen Schwule vielleicht gar selber lieber Master of the Gay Universe, auch wenn sie immer die kleinen Würstchen bleiben?

Als ich Froehlings Text las, tauchten in mir Bilder aus den Büchern anderer Autoren wieder auf. Genet und seine Zeit mit Gaunern, Randexistenzen und Gefängnissen. Guido Bachmann mit seiner Jungenliebe in Bern, die seltsam entrückt in den Leidenschaften, sich auf Mythen der Urzeit berief und dann Martin Franks „Ter Fögi isch e Souhung“ (Der F. ist ein Kinderverderber) mit seiner Band-Szene und den 70er Jahren.

Schon Genet war ein Medium sadomasochistischer Szenen und Leidenschaften. Bachmann entging dem in den 60ern ebenso wenig, wie Frank in den 70ern. Dieser Sadomasochismus in vielen Formen begleitet die neuere Literatur über Männerbeziehungen bis heute.

Haben wir nichts „gelernt“? Sind wir immer noch hetero-verkettet in hetero Leidenschaften? Auch als Männer? Auch ich bin natürlich nicht darum herumgekommen. Aber irgendwann mal hatte ich genug davon. Aus dem Unverständnis von Gilgamesch ist ein sich wehren gegen solche Symbiosen geworden, das sich mit 35 Jahren zum letzten Mal in mir aufbäumte. Meine letzte grosse Liebe, die ich in einer Art Tagebuch verarbeitete.

Wo bleibt die Leichtigkeit einer Männerliebe bis heute? Ist sie in den Pornos verschwunden? Da wo alles stimmt? Oder ist sie noch immer zu entdecken?

Für mich schrieb Simon eine faszinierende Erzählung aus seinem Leben. Aus dem schwulen Leben von Zürich sicher auch. Gerne würde ich mehr erfahren! Auch von anderen Autoren.

Hinter und vor den blauen Seiten hat es viel Word und Bites. An die Tasten Jungs!

Peter Thommen, schwuler Buchhändler (60), Basel

Simon Froehling: Lange Nächte Tag, Bilgerverlag 2011, 196 S. CHF 34.-

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