Bücher – kollektives Gedächtnis?

Bücher für Schwule verlieren ihre Bedeutung für das kollektive Gedächtnis!

Ein frühes Buch von Edmund White (*1940) heisst „Die brennende Bibliothek“. Der Titel hielt mich lange Jahre davon ab, es zu lesen. Doch die ausgezeichneten Essays geben im Nachhinein den Blick frei in eine US-Vergangenheit, die gerade verschollen geworden ist. Beim suchen im Internet stiess ich bei diesem Ausdruck auf den Bestandteil eines afrikanischen Sprichworts, das formulierte, dass beim Tod eines Menschen ganze „Bibliotheken“ verschwinden würden. White bezog sich mit dem Titel wohl auf die Anfangszeiten von AIDS…

Seit einigen Jahren tauchen in den Internet-Antiquariaten die Bücher verstorbener schwuler Leser auf. Sie verflattern als Einzelexemplare an verschiedenste Käufer. Die Schwubliothek in Zürich wurde auch quasi aufgelöst, als die HaZ ins neue Haus an der Zollstrasse umzog.

Ich habe selbst auch eine grosse Bibliothek gesammelt in den vergangenen Jahrzehnten. Und ich bedaure, dass in Zukunft keiner mehr sich anschauen oder lesen kann, was einem Schwulen in den vergangenen Jahrzehnten an Lektüre zu Verfügung gestanden hat. Ich bin mir bewusst, dass Schwule nicht den grössten Teil ihres Lebens mit Bücherlesen verbracht haben. Auch sah ich mit den Jahren in meinem Laden, dass neben den pornografischen Erzeugnissen doch immer auch Bücher gekauft worden sind.

In der letzten Zeit habe ich verschiedene davon gelesen (weil immer in der Absicht gesammelt, dies „später mal“ zu tun, wenn ich die Zeit haben werde) und ich bin erstaunt, was da alles von us-amerikanischen und britischen Autoren geschrieben worden ist. Ihr Leben war verschieden von dem einer schwulenbewegten Schwester in Europa. Und doch gleichen sich die bürgerlich-biederen Lebenswünsche der verschiedenen Lebenskulturen in Mancherlei.

Im Januar 1992 fand ich in der „Nürnberger Schwulenpost“ Nr. 86, einen Text von Bernhard Fleischer über die Literatur, die Verlage drucken und Schwule nur selten lesen würden. Im gleichen Jahr erschien bei Beck&Glückler das Buch von Dominique Fernandez: Der Raub des Ganymed. Eine Kulturgeschichte der Homosexualität. (frz. 1989 LdP) Darin enthalten: „Grösse und Niedergang der homosexuellen Literatur“. Solche Überblicke ersparen einem das Lesen dicker Wälzer oder vieler Titel und geben Hinweise, welche Texte interessant sein könnten. Für mich sind Erzählungen über andere Autoren und ihre Werke immer spannend zu lesen. Ich bin im letzten Buch von Hugo Loetscher (1929-2009), „War meine Zeit meine Zeit“ noch auf den vergessenen Schriftsteller Pierre Loti (1850-1923) gestossen.

Das „Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde wurde mir in meiner Jugend zur Lektüre empfohlen. Ein „bürgerlicher“ Klassiker in der Literatur. Mir war während 50 Jahren nicht klar, was die Geschichte um ein gemaltes Bild mit Männerliebe zu tun hat. Erst nach Ansicht einer Verfilmung auf arte.tv ist mir klar geworden, dass eine biedere Gesellschaft – und aus dieser stammte Wilde – immer nur in einen Spiegel schauen kann, aber nicht ein Verhältnis zwischen zwei verschiedenen Männern sieht. Dies ist so seit der Legende um Narkissos. Um das zu verstehen brauchen wir Einsichtsfähigkeit in damalige Verhältnisse und Sichtweisen. Wir können nicht einfach alles „woke“ aus aktueller Zeit rück-interpretieren.

Ich bitte jeden Autor, in seinen Texten verschiedentlich auch die gelesenen anderen Schriftsteller zu erwähnen, soweit das möglich ist. Oder eine Liste anzufügen. In diesem Rahmen wird er für Andere auch verständlicher.

Peter Thommen_74, Basel

Über die Schwubliothek in Zürich

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